Alle Menschen die mir nahestehen und mich gut kennen werden jetzt aufschreien. „War klar…“, „Warum erst jetzt?“, „Musste ja kommen…“. Depeche Mode sind mein Leben. Seit über 30 Jahren bereichere ich Menschen in meiner Umgebung mit dieser Band. Ob sie es wollen oder nicht. „Devotee“ for Life. Fanboy-Dasein in absoluter Subjektivität. Ich kann leider nicht anders. Egal ob meine früheste Kindheit, meine Jugend, mein Erwachsenendasein. „Soundtrack of my life“ umschreibt es passend. Aus diesem Grund wird die „Hauptschlagader“ meiner musikalischen Sozialisation ein wiederkehrender Strang dieses Blogs sein. Weil ich viel zu erzählen habe und es nicht schaffe, die Bedeutung von Depeche Mode für mich mit der Auswahl eines einzigen Albums zu unterstreichen. Beginnen möchte ich mit meinem persönlichen Lerneffekt, dem Album Songs Of Faith And Devotion.

Was soll der Scheiß?

In den frühen 1990er Jahren machten Depeche Mode circa 80% meines täglichen Musikkonsums aus. Mein ganzes Taschengeld investierte ich in die bis dato veröffentlichten Alben. Alle sechs Wochen war es soweit, ich konnte endlich ein weiteres Album meiner Sammlung zufügen. Glücklicherweise hatten Depeche Mode seit ihrer Gründung 1980 bereits sieben Alben veröffentlich, darüber hinaus sammelte ich Singles, Bootlegs, Übersee-Kompilationen und, dank teurem Versandhandel, sogar „Japan-Pressungen“. Diese hatten einen besonders hochwertigen, digitalen Klang, was auf der alten Sharp-Stereoanlage meines Bruders (mit Neonfarben handbesprüht!) natürlich sofort hörbar wurde. So rein subjektiv. Mit Sehnsucht erwartete ich im März 1993 die Veröffentlichung von Songs Of Faith And Devotion. Es sollte als heranwachsender junger 13-jähriger meine Coming-of-Age-Platte werden. Endlich neuer Synth-Pop mit wundervollen Harmonien und Samples von Küchengeräten oder ähnlichem.

Was mich beim ersten Hören erwartete, lies mich ratlos, enttäuscht und frustriert zurück. Da waren Gitarren, ein akustisches Schlagzeug, Gospelgesang und mittendrin ein langhaariger Dave Gahan. Für mich war das großer Schrott! Aufgeregt lief ich zu einem sehr guten Freund in der Nachbarschaft, mit der Bitte sich das Album anzuhören. Er war zweieinhalb Jahre älter und nahezu der einzige, der meine Begeisterung für die Band wenigstens im Ansatz teilte. Er fand das Album super, zeichnete Parallelen zu den aufkommenden Alternative- und Grungebands der damaligen Zeit und gab es mir zurück. An dieser Stelle muss ich kurz einschieben, dass diese Person einen sehr großen Anteil daran hatte, dass ich mich irgendwann für Gitarrenmusik interessierte. Er hat mich somit vor einem Abrutschen in den sich bildenden Eurodance-/Techno-Sumpf bewahrt. Ich ging nach Hause und hämmerte mir wortwörtlich Songs Of Faith And Devotion in den Kopf. Die Kunst, mögen zu lernen.

Exodus

Nach dem Welterfolg Violator waren Depeche Mode zu Beginn der 1990er-Jahre ganz oben angekommen. Eine zuverlässige Band, die nahezu im Jahreswechsel Alben produzierte und nebenbei auf Tour die Welt bereiste. Die Folgen: Entfremdung von der Familie oder die Trennung von Partnern waren die Folge permanenter Rastlosigkeit. Das monumentale Songs Of Faith And Devotion mit anschließender Tournee trieb Depeche Mode an den Rand der Existenz. Dave Gahan war als Junkie todgeweiht, Martin Gore flüchtete in den Alkohol, Andy Fletcher erlitt einen Nervenzusammenbruch – und Alan Wilder verließ die Band für immer.

Wie der Titel es sagt, handeln die Songs des Albums von Spiritualität und Bescheidenheit. Ein Paradoxon in der damaligen Zeit. Die Tour zum Album umfasste 156 Konzerte und wurde zur physischen und psychischen Zerreißprobe. Dave Gahan, inszenierte sich ausgemergelt, tätowiert und langhaarig als eine Allegorie zwischen Jesus und Grungesänger. Er zog 1992 von London nach Hollywood und verlor sich dort ein seiner Heroinsucht.

“Manchmal rief uns jemand aus L.A. an und meinte, es gehe Dave prima, er sein clean. Aber wir wußten nicht, ob wir das wirklich glauben sollten. Dave gehört für mich schon seit längerem zu den Leuten, an die ich denke, wenn das Telefon klingelt: Jetzt ist er tot, ist dann mein erster Gedanke. Er ist schon ein verdammt labiler Mensch.” Martin Gore, 1997

Am 17. August 1995 unternahm Dave Gahan einen gescheiterten Suizid-Versuch, am 28. Mai 1996 kam fast jede Hilfe zu spät. Er spritzte sich auf seinem Hotelzimmer einen „Speedball“, ein Cocktail aus Heroin und Kokain. Er war zwei Minuten klinisch tot bevor ihn Rettungssanitäter wiederbeleben konnten. Von diesem Vorfall erfuhr ich in der Prä-Internet-Ära aus einem 4-zeiligen Berichtschnipsel aus der Tageszeitung. Für mich war dies das Ende der Band. Zumal mit Alan Wilder der eigentliche Soundtüftler das sinkende Schiff Depeche Mode verließ.

Lass es zu

Ich habe Songs Of Faith And Devotion glücklicherweise doch lieben gelernt. Es ist das erfolgreichste Album von Depeche Mode, obwohl es die Band fast zerstörte. Der Einsatz von Akustikinstrumenten gibt dem Album Kraft und den Songs eine neue, der Band bis dato unbekannte, Richtung. Dave Gahan schreit in I Feel You, er predigt in Walking In My Shoes, er fleht in Condemnation. Die Palette ist vielfältig und facettenreich. Martin Gore darf zwei wundervolle Balladen singen (Judas. One Caress). Mit In Your Room wartet in der Albummitte einer der besten Songs, die Depeche Mode je schrieben. Findet übrigens auch Alan Wilder, der eine (kurzzeitige) Rückkehr zur Band mittlerweile nicht mehr ausschließt. Ich habe mit diesem Album gelernt, sich auf neue Dinge ein- und Entwicklungen zuzulassen. Unabhängig von Äußerlichkeiten und persönlichen Präferenzen oder Animositäten. Einen großen Anteil daran hat mein Freund aus Kindertagen, der mittlerweile leider viel zu weit weg wohnt.

Durch die Augen eines Kindes

Mir ist bewusst, das Depeche Mode heutzutage eine Zweckgemeinschaft, mit Wohnsitzen in London (Fletcher), Santa Barbara (Gore) und New York (Gahan), sind. Ich bin froh, dass die Band weiterhin Musik macht und bewahre mir mein kindliches Fanboy-Herz für neue Songs. Höchst subjektiv natürlich. Das Dave Gahan einen Lebenswandel zum Guten schaffte, freut mich ausdrücklich, gab es in der damaligen Musikszene zu viele Drogentote. Mit seiner Baritonstimme und exaltierten Bühnen-Attitüde ist er eine aussterbende Spezies der guten alten Frontmann-Generation. Ich sehe ihm unglaublich gerne zu und bewundere ihn für seine Leistungen mit Mitte 50.  Glücklicherweise muss ich heute keine sechs Wochen mehr sparen, um mir eine Platte leisten zu können. Höre ich Songs Of Faith And Devotion, packe ich in meinem Kopf die Reisetasche für die morgen beginnende Klassenfahrt.

 

Unnützes Kneipenwissen I: Als „Devotees“ bezeichnen sich die treuesten Depeche Mode-Fans weltweit. Die Bezeichnung prangte auf den T-Shirts, die Roadies während der Devotional-Tour 1993/94 trugen.

Unnützes Kneipenwissen II: Als einziges aller 14 Studioalben zeigt das Cover von Songs Of Faith And Devotion die Gesichter Bandmitglieder.

Unnützes Kneipenwissen III: Knibbelt man die CD-Hülle auseinander, findet sich auf der Innenseite des Backcovers ein Portrait von Dave Gahan vor einem Sex-Shop in Hamburg. Verrückte 90er!

 

Anspieltipps: Walking In My Shoes, I Feel You, In Your Room, One Caress

Höre ich dann am liebsten: wenn ich die Treppe runter laufe, meinen Schlüssel schnappe und durch den Garten über den Zaun springen will

 



 

Depeche Mode – Song Of Faith And Devotion

Genre:Pop
Stil:Synthie Pop, Synth Rock, New Wave, Alternative
Jahr:1993
Anzahl Titel:10
Laufzeit:47:26

Tracklist

I Feel You4:35
Walking In My Shoes5:35
Condemnation3:20
Mercy In You4:17
Judas5:14
In Your Room6:26
Get Right With Me3:32
Rush4:37
One Caress3:30
Higher Love5:56