Neue Musik zu entdecken, hieß für mich inmitten der 90er-Jahre, MTV einschalten. Belesene oder betuchte Mitmenschen hatten die Möglichkeit, eine Musikzeitschrift zu abonnieren. Für Schüler knapp bei Kasse, wie mich, keine Alternative. Ich gewöhnte mich daran, MTV spät abends zu konsumieren. Abseits von Chartquoten und sich ständig wiederholender Videoclips von Boybands oder Eurodanceskurrilitäten. Eines Nachts, Augen auf Halbmast, am Fernseher bereits die Sleeper-Funktion aktiviert, kam die Erleuchtung. Ein beginnender Videoclip im „Einer flog übers Kuckucksnest“-Setting. Übersättigte Farben, geschrammelte Gitarre. „Dooo you have the time?“. Danach war an Schlaf nicht mehr zu denken. Mein Bruder arbeitete zu jener Zeit in einem Elektrofachgeschäft, deren Kette es lange nicht mehr gibt. „Besorg‘ mir die Single!“. „Die gibt’s nicht!“. „Wie?“. „Die gibt’s hier nicht. Muss ich in den USA bestellen.“. „Was?“. „Ja.“. „Egal, mach!“. Kurze Zeit später, ist nicht nur für Green Day alles anders wie bisher. Und meine Jugend bekommt einen Sinn. Dookie.

Zwickmühle

1992 ist ein gutes Jahr für die junge Band Green Day aus Berkeley, Kalifornien. Gerade veröffentlichten sie ihr zweites Album Kerplunk! und landen damit einen kleinen Hit in der kalifornischen Independent-Szene. 50.000 verkaufte Platten sind eine stolze Summe für die drei Jungs Billy Joe Armstrong (Gesang, Gitarre), Mike Dirnt (Bass) und Frank Edwin Wright III, genannt Tré Cool (Drums). Dirnt und Armstrong gründen die Band 1986 als Sweet Children. Erst während der Aufnahmen zu ihrem Debütalbum 1990 ändern sie den Bandnamen in Green Day, eine Anspielung für den Konsum von Cannabis. Green Day sind stark verankert in der Punkszene von Berkeley, die sich nach dem DIY-Prinzip organisiert und penibel ihren Independentstatus bewahrt. Nach dem kleinen Erfolg von Kerplunk! stehen die ersten Majorlabels vor der Tür und zeigen Interesse. Die Band tritt in den ersten Jahren wenig politisch auf, versprüht dafür ihren besonderen Charme mit Schnodder und Schnauze.

Um die Kredibilität zu wahren, lassen Green Day die Anfragen diverser Majorlabels unkommentiert. Bis eines Tages Rob Cavallo vor der Tür steht. Dieser ist zu jenem Zeitpunkt Produzent beim Warner-Sublabel Reprise und zeigt sich interessiert daran, mit den gerade Zwanzigjährigen zu arbeiten. Die Band kennt Cavallo und ist beeindruckt von seiner Arbeit mit der befreundeten Band The Muffs. Bedingung der Zusammenarbeit: Green Day verlassen ihr Independentlabel Lookout! und unterschreiben einen Vertrag bei Reprise. Die Band befindet sich in einer Zwickmühle:

„I couldn’t go back to the punk scene, whether we were the biggest success in the world or the biggest failure … The only thing I could do was get on my bike and go forward.“ – Billy Joe Armstrong, 1999, Spin Magazine

Falscher Film

Die lokale Punkszene schäumt. Green Day „verraten“ sich an ein Majorlabel. „Wofür? Für ein bisschen mehr Ruhm und Verkaufszahlen?“. Ihr Stammclub in Berkely, das 924 Gilman Street, verordnet Green Day ab der Unterzeichnung des Plattenvertrags Hausverbot. Der Weg zurück scheint verschlossen. Es geht nur nach vorne. 1993 beginnen, gemeinsam mit Rob Cavallo, die Aufnahmen zu ihrem dritten Album. Die Songideen sind vorhanden, so dass sie zügig ein erstes Demo fertigstellen. Als Cavallo das Tape hört, ist er sofort begeistert. Die anschließenden Aufnahmen zum Album dauern nicht länger als drei Wochen. Die Gesangsspuren sind sogar nach zwei Tagen im Kasten. Ganz kann die Band ihre antrainierte Verweigerungshaltung allerdings nicht aufgeben. Sie übergeben Reprise die Aufnahmen und nennen das Album Dookie. Scheiße. Das Label zeigt sich kulant und übersieht die kleine, politische und marketingtechnische Schwierigkeit. Schließlich passt der Titel hervorragend zur „Nimm dies!“- oder „Ja und?“-Attitüde der Songs.

Dookie also. Das selbstgestaltete Artwork von East Bay Punk Richie Bucher, samt handschriftlichem und künstlerischem Booklet, greift die DIY-Wurzeln der Band auf. Ein Wimmelbild als Frontcover und Sketchbook-Skizzen im Inneren. Dookie erscheint im Februar 1994 und Reprise schickt die Band umgehend auf Tour. Mangels Budget leiht sich die Band von Tré Cools Vater ein Buchmobil, mit welchem sie in den USA von Auftritt zu Auftritt tingeln. Einige Wochen später fliegen sie nach Europa um ein paar Supportshows zu spielen. Währenddessen eskalieren in der Heimat die Verkaufszahlen von The Offsprings Smash und heben den Cali-Punk in den Mainstream. Im Gegensatz zum Werk der Kollegen aus Orange County, ist Dookie poppiger und eingängiger. Als Green Day nach Europa aufbrechen, verkaufte sich Dookie ein paar Tausend mal. Bei ihrer Rückkehr, einige Wochen später, ist die Millionengrenze überschritten. Die Band wähnt sich im falschen Film.

Zugedrücktes Auge

Das Video, welches mir in einer Nacht 1994 den Schlaf raubte, war Basket Case. Kaum ein Album hat seinerzeit dermaßen schnell die Herzen erobert wie Dookie. Kein Tag am See, keine Autofahrt im gebrauchten Golf III und keine Party, mit auf Musikboxen platzierten, halbgeleerten Bierflaschen in elterlichen Wohnzimmern, ohne dieses Phänomen an Album. Bereits die ersten Takte von Burnout ziehen den Hörer hinein und lassen die Gliedmaßen zucken. Von Anfang bis Ende eine Platte zum Spaß haben, Dummheiten machen und Grenzen austesten. Dookie liefert das zugedrückte Auge dazu.

Heraus stechen die Singleauskopplungen. Longview, das Langeweile- und Masturbations-Manifest, lädt im Refrain zum Rumhüpfen. When I Come Around ist voller Melancholie und Hoffnung und Welcome To Paradise geht dermaßen nach vorne, dass Stillstehen einer unlösbaren Mathematikaufgabe gleicht. Basket Case, die Hymne unseres Heranwachsens, als Single mühsam und geduldig importiert aus den USA, läuft zuhause in Dauerrotation. Im Song verarbeitet Armstrong seine Angstzustände und Panikattacken, dennoch avanciert das Stück zur vertonten guten Laune.

Gretchenfrage

Bis heute verkauft sich Dookie über 20 Millionen mal. Dennoch ernten Green Day, bei allem plötzlich auftretendem Erfolg, eine Menge Hass und Missgunst aus ihrem alten Punkumfeld in Berkeley. Ab der Veröffentlichung des Albums ist alles anders. Ein Zurück ist nicht mehr möglich, die Band muss nach vorne schauen. Genauso hat das Album für uns als Jugendliche einen Weg geebnet. Dank Green Day oder The Offspring hieß die Gretchenfrage unter uns Mitte der 90er „Punk oder Techno?“. Gitarre oder Elektro? Drei Akkorde oder Beats per minute? Als Jugendlicher musstest du dich entscheiden. Grunge lag in den letzten Atemzügen, Metal entwickelte sich zum Nischenprodukt.

Ein zweites Dookie wollten und konnten Green Day nicht mehr. Mit einem sehr guten Freund, wie ich glühender Verehrer der Platte, führte ich einige Jahre später folgenden Dialog: „Haste gehört, Green Day haben eine Best of-Platte veröffentlicht?“. „Echt? Haben sie die Dookie nochmal veröffentlicht?“. Diese Platte ist unsere verdammte Jugend. Von A bis Z. Wie sehr ich mir so etwas für meine Kinder wünsche.

Unnützes Kneipenwissen I: Das ursprüngliche Backcover von Dookie ziert eine Handpuppe von Ernie aus der Sesamstraße. Diese wurde nach kurzer Zeit in den USA herausretuschiert, um eine Klage der Sesamstraße gegen das Label zu vermeiden. In Europa und in Kanada blieb Ernie auf dem Foto.

Unnützes Kneipenwissen II: Im August 1994 spielen Green Day auf dem Festival Woodstock ’94. Aufgrund der bescheidenen Witterungsverhältnisse liefert sich die Band während des Sets eine wortwörtliche Schlammschlacht mit den Zuschauern, so dass sie die Show nicht zu Ende spielen können. Mike Dirnt, total verdreckt, wird im Handgemenge von Ordnern fälschlicherweise mit einem Fan verwechselt und verliert bei einem Angriff der Sicherheitsleute zwei Schneidezähne. Den halbstündigen denkwürdigen Auftritt findet ihr in der unten eingebetteten Playlist. Im letzten Drittel wird’s schmutzig.

… es ist so schön …

Unnützes Kneipenwissen III: Rob Cavallo machte dank Dookie Karriere und stieg vom Produzenten bis zum Chef das Majorlabels Warner auf.

Unnützes Kneipenwissen IV: Die Songs von Dookie starten alle direkt mit der ersten Strophe und besitzen, mit Ausnahme von Longview, keine nennenswerten Intros. Nach Aussage der Band hat das zwei Gründe: Kein Radio-DJ solle in den Song reinquatschen und Dookie sei eine Reminszenz an das Beatles-Album Please, Please Me. Dessen Songs starten ebenfalls „auf den Punkt“.

 

Anspieltipps: BITTE DURCHHÖREN

 


Wenn euch die Sahneplatte gefällt, schaut doch in der Plattenkiste vorbei. Da gibt es noch weitere hervorragende Alben und spannende Geschichten.


 


 

Green Day – Dookie

Genre:Rock
Stil:Punk Rock, Pop Punk
Jahr:1994
Anzahl Titel:14
Laufzeit:39:38

Tracklist

Burnout2:07
Having a Blast2:44
Chump2:54
Longview3:59
Welcome To Paradise3:44
Pulling Teeth2:31
Basket Case3:01
She2:14
Sassafras Roots2:37
When I Come Around2:58
Coming Clean1:34
Emenius Sleepus1:43
In the End1:46
F.O.D. (+ Hidden Track "All By Myself")5:46