Du stehst auf dem höchsten Berg. Alleine. Um dich herum ist es dunkel. Du spürst die Weite des Raums, kannst sie aber nicht sehen. Einatmen. Ausatmen. Tief. Die Luft ist klar, deine Lungen füllen sich mit Kraft. Du spürst die ersten Tropfen im Gesicht. Bevor der Regen in Strömen auf dich herniederprasselt. Du denkst dir ist kalt. Dabei hüllen dich die Wassermassen in einen warmen Umhang. Wie die Umarmung deines liebsten Menschen. Du breitest die Arme aus und willst schreien. Heraus kommt Stille. Du bist dich deiner Einsamkeit bewusst, willst dennoch, dass dich jeder sieht. Und hört. Du fühlst dich müde, bist aber hellwach. Jetzt einen Schritt nach vorne. Du bleibst stehen. Langsam zerreißt das Licht die Dunkelheit. Und ein warmer Wind trocknet die nasse Haut. Das ist der Moment, in dem du beginnst, Turn On The Bright Lights zu hören. Interpol schaffen mit ihrem Debüt ein Meisterwerk emotionaler Impressionen.

Ventil

Als am 11. September 2001 zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Center rasen, hält die Welt den Atem an. CNN läuft in Dauerrotation. Die Anschläge beenden auf einen Streich die Spaßgesellschaft der 1990er-Jahre, schüren Angst und Unsicherheit. Besonders die Stadt New York ist schwer traumatisiert, was sich auf die hiesige Musikszene auswirkt. Dort stellen im gleichen Jahr The Strokes mit ihrem Lo Fi-Garagenrock die Musikwelt auf den Kopf und schaffen mit ihrem Debütalbum Is This It ein neues Selbstbewusstsein in der Rockmusik. Durch die Anschläge scheint der Spaß ein jähes Ende zu finden. Amerikanische Bands beginnen, sich zu politisieren, Position zu beziehen. Andere wiederrum transportieren ihre Gefühle offen nach außen und versuchen, den Menschen ein Ventil für ihre Unsicherheit und Angst zu geben.

1997 treffen sich Daniel Kessler (Gitarre) und Greg Drudy (Schlagzeug) in einem Philosophiekurs der Universität von New York und beschließen, gemeinsam Musik zu machen. In New Yorks East Village treffen sie auf Paul Banks (Gesang, Gitarre), der mit seiner melancholischen Bariton-Stimme perfekt für die Musik von Kessler und Drudy zu sein scheint. Dazu hat er mit Carlos Dengler einen Bassisten im Schlepptau, der die Band mit seinem Instrument komplettiert. Alle vier Musiker sind kreative Köpfe, so fällt die gemeinsame Entscheidung für einen Bandnamen schwer. Nachdem sie sich als Las Armas und The French Letters probieren, legen sie sich auf den Namen „Interpol“ fest.

Nicht Joy Division

In den ersten Jahren nehmen sie in Eigenarbeit einige EPs auf und spielen Konzerte innerhalb New Yorks. 2000 verlässt Drudy die Band, um sich auf seine Arbeit bei der Posthardcore Band Hot Cross zu konzentrieren. Seinen Platz bekommt Sam Fogarino, den die Band in einem Second-Hand-Shop kennenlernt. Interpol spielen Musik, die sich stark mit dem Post-Punk der späten 1970er-Jahre identifiziert. Sie klingen verblüffend authentisch nach Bands wie Echo and the Bunnymen, The Smiths oder The Chameleons. Der Bariton von Paul Banks zieht beim Hören umgehend Parallelen zu Ian Curtis, der mit seiner Band Joy Division nicht nur die Speerspitze des Post-Punks bildet, sondern mit seinem frühen (Frei-)Tod als Ikone britischer Rockmusik gilt. Den Vergleich zu Joy Division nehmen Interpol artig aber stets mit Widerwillen an. Sie klingen wie eine britische Band im verregneten Manchester, ziehen dabei ihre Eigenart aus Einflüssen ihrer Heimatstadt New York.

Im November 2001, zwei Monate nach den Anschlägen von New York, beginnen sie in Connecticut mit den Aufnahmen zu ihrem Debütalbum Turn On The Bright Lights. Nachdem sie die ersten EPs in Eigenregie vertrieben, unterzeichnen sie parallel zu den Aufnahmen einen Plattenvertrag beim Independentlabel Matador Records. Bevor Interpol ihr Debütalbum im August 2002 veröffentlichen, schicken sie im Juni als Vorbote eine EP mit drei Songs in die Welt. Die enthaltenen Songs PDA und NYC platzieren sie später auf dem Debütalbum und setzen damit erste Duftmarken. Die Verkaufszahlen sind anfangs verhalten. Kritiker und Musikpresse überschlagen sich allerdings mit Lob, Begeisterung und Superlativen. So gilt Turn On The Bright Lights, trotz namhafter Konkurrenz, schnell als „Album des Jahres 2002“. Dabei verkauft sich das Album in den folgenden zwei Jahren seiner Veröffentlichung lediglich 300.000 Mal. Auch dieses Phänomen teilen sie mit ihrem „Schatten“ Joy Division.

Blaupause

Turn On The Bright Lights ist ein Meisterwerk an emotionaler und atmosphärischer Dichte. In der Hommage an ihre Heimstadt NYC halten ihr Interpol melancholisch aber hoffnungsvoll die Hand. Während selbst Dialoge in der TV-Serie Gilmore Girls darüber philosophieren, ob man zu der Musik von Joy Division tanzen könne oder nicht, beweisen es Interpol mit den energetischen und kraftvollen Songs PDA und Obstacle 1. Das bezaubernde Untitled eröffnet das Album fast scheu und platziert die erste Gänsehaut auf dem Körper des Hörers. Say Hello To The Angels geht nach vorne und lässt niemanden stillstehen.

Wer sich nicht in der Stimme von Paul Banks verliert, ist selber schuld. Das Gitarrenspiel von Daniel Kessler ist zugleich Herz und Lunge der Songs. Interpol eröffnen mit Turn On The Bright Lights das Post-Punk Revival der 2000er-Jahre und werden, in einer politisch instabilen Zeit, zur Blaupause für kommende Bands dies- und jenseits des Atlantiks, wie Editors, Killers oder TV On The Radio.

Pourin‘ rain

„Suggesting that this album is simply a product of its time and place is no less naive than suggesting that anyone who has ever been in love could easily write, arrange and record an amazing love song. There were a lot of good bands in New York in 2002, but only one band made this record.“ – Matt LeMay, Pitchfork, 2012

Für mich hat Turn On The Bright Lights eine große Bedeutung. Gemeinsam mit den Kollegen von The Strokes, läuteten Interpol mit diesem Album ein Genre ein, welches mich über Jahre intensiv begleitete. Und was ich heute noch regelmäßig höre und genieße. Ich habe es gerne mal etwas melancholischer und gefühlbetonter. Tanzen ist für mich nichts anderes als das Ausleben einer Emotion. Am liebsten ungeachtet von Regeln. Es geht ausschließlich ums (Wohl-)Fühlen, um Lust und Leidenschaft. Es gibt kein zweites Album wie Turn On The Bright Lights. Und wird es nicht mehr geben. Wer sich nicht verliebt, dem kann ich nicht helfen. Als Beweis dafür fällt mir gerade auf, dass ich über diese Platte mitten im Juni schreibe. Dabei ist die Platte wie November. In Manchester. Im „pourin‘ rain“. Wie sehr ich das liebe.

Unnützes Kneipenwissen I: Auf der Bühne sind Interpol nicht gerade eine „Party Posse“. Bei ihren Auftritten wird wenig dem Zufall überlassen: Die Band folgt einem Dresscode, umgibt sich mit Nebel und lässt sich stets von hinten anstrahlen. Die Musik steht auf einem Konzert von Interpol eindeutig im Vordergrund.

Unnützes Kneipenwissen II: Interpol besitzt keinen hauptverantwortlichen Songwriter. Alle Bandmitglieder bringen ihre Ideen gleichermaßen ein.

…. einatmen, ausatmen …

Unnützes Kneipenwissen III: Die Band setzt keine hohen Ansprüche in ihre Songtitel. So kommt es selten vor, dass der Titel in den Texten des Songs auftaucht. PDA ist ein Akronym für „Public Display of Affection“ und bezeichnet laut Banks das schwankende Gefühl zwischen Liebe und Hass beim Anblick seiner damaligen Exfreundin in der Öffentlichkeit.

 

Anspieltipps: PDA, NYC, Obstacle 1, Untitled, Say Hello To The Angels

 


Wenn euch die Sahneplatte gefällt, schaut doch in der Plattenkiste vorbei. Da gibt es noch weitere hervorragende Alben und spannende Geschichten.



 

Interpol – Turn On The Bright Lights

Genre:Rock
Stil:Indie Rock, Post-Punk
Jahr:2002
Anzahl Titel:11
Laufzeit:49:02

Tracklist

Untitled3:56
Obstacle 14:11
NYC4:20
PDA4:59
Say Hello to the Angels4:28
Hands Away3:05
Obstacle 23:47
Stella Was a Diver and She Was Always Down6:28
Roland3:35
The New6:07
Leif Erikson4:00