Stell dir vor, du gründest eine neue Band. Ihr nehmt einen Song auf. Schickt ihn an einige Plattenfirmen. Werdet abgelehnt. Ihr nehmt einen zweiten Song auf. Schickt ihn wieder raus. Werdet erneut abgelehnt. Ihr nehmt zwei weitere Songs auf, macht ne EP draus. Schickt diese wieder an sämtliche Plattenfirmen und verteilt diese zudem kostenlos auf Konzerten, auf denen ihr als Vorband  auftreten dürft. Wieder Absagen. Ihr schreibt weitere Songs, irgendwann sind es so viele, dass es für ein ganzes Album reicht. Dann gründet ihr ein eigenes Plattenlabel, da der Kreislauf ja bekanntlich ein Arschloch ist. Einige Monate später seid ihr die Lieblinge des Feuilletons, werdet in der Süddeutschen Zeitung, FAZ und Tagesschau gefeiert. Ihr schenkt der Welt eines der schönsten und poetischsten deutschprachigen Musikalben. Danke Kettcar!

Wenn es keine Frauen gibt, hören wir wenigstens Musik

August 2001, ein Campingplatz irgendwo am Gardasee. Irgendwann am Tag vernimmt die Szenerie folgenden Dialog zweier junger Männer:

„Kennste Kettcar?“

„Was?“

Kettcar

„Nee…“

„Ist die Nachfolgeband von …But Alive und Rantanplan. Aus Hamburg. Hör mal…“

(der Discman spielt ein Lied namens „Mein Skateboard kriegt mein Zahnarzt„)

„Ist ja weder Punk noch Ska…??“

„Ja, aber geil! Die haben erst ein paar Lieder…das wird mal was!“

2001 waren wir noch jung, sportlich und ambitioniert. So trug es sich zu, dass wir mit fünf Jungs einen Klettersteigurlaub in den Dolomiten verlebten. Um nach einer anstrengenden Kurzwoche mit allerlei Höhenmetern unsere geschundenen Körper zu regenerieren, hängten wir eine Woche Campingplatz am Gardasee dran. Rückblickend betrachtet, sollte mein Gesprächspartner innerhalb des oben genannten Dialogs Recht behalten. Und wie! Ein Jahr später erschien das Debütalbum von Kettcar, „Du und wieviel von deinen Freunden„. Es begeisterte restlos jeden den ich kannte. Mich eingeschlossen.

Hamburg, 8°, Regen

…But Alive und Rantanplan waren/sind Punkbands aus Hamburg, deren Musik uns auf sämtlichen Parties und Grillhüttentreffen in der Oberstufe begleiteten. Lieder, mal etwas direkter und politisch (…But Alive) mal eher beschwingter und lustiger (Rantanplan). Auf alle Fälle immer präsent. Nach der Auflösung von …But Alive formierten sich zwei Mitglieder der Band (Marcus Wiebusch, Gesang und Frank Tirado-Rosales, Schlagzeug) gemeinsam mit Rantanplans Reimer Bustorff (Bass) neu und gründeten Kettcar. Musikalisch neu ausgerichtet, kam die Band mit ihrem Indie-Gitarrenpop anfangs nicht so Recht auf die Beine (siehe Einstiegsszenario).

Um die Musik dennoch zu veröffentlichen, gründeten Marcus Wiebusch, Reimer Bustorff und Thees Ullmann von Tomte das Indie-Label „Grand Hotel van Cleef„. Nachdem sich die ersten Songs noch kostenlos via Internet verbreiteten, konnte das ersehnte Debütalbum „Du und wieviel von deinen Freunden“ erscheinen. Welch ein grandioses Geschenk!

Ein Album, das den Hörer anspricht – weil es einen nicht anspringt. Weil offene Fragen bleiben, weil auch beim hundertsten Hören immer noch nicht alles entschlüsselt und verstanden ist. Es geht um das Empfinden, nicht um das Verstehen. Keine Textzeile ist banal oder belanglos, dennoch überfordert es den Hörer nicht. Mal sinnierend (Volle Distanz), mal ausgelassen (Ausgetrunken), mal nachdenklich (Jenseits der Bikinilinie). Über allem steht „Landungsbrücken raus„. Eine Ode an die Heimat, im Falle der Band, Hamburg. Vertonte Gänsehaut. Jede Zeile des Albums als perfektes Gefühl unserer damaligen Adoleszenz.

Couchsurfin‘

Das Kettcar im Laufe Ihrer Karriere eine besondere Beziehung zu Trier hatten, ist kein Geheimnis. Regelmäßige Auftritte sowie Übernachungen in hiesigen WGs in den Anfangstagen warfen etwas Glanz in unsere südwestliche Peripherie.

„Trier ist immer eine Anlaufstelle für uns. Das war es schon, bevor Schlagzeuger Frank mit einer Triererin zusammenkam. Bevor er „Lucky’s Luke„-T-Shirts bei Rock am Ring-Auftritten trug. […] Das muss man sich mal vorstellen. Mein Opa war ausgewandert, lebte in der Nähe von Miami. Mit Swimming-Pool und allem drum und dran. Dann hat er eine Triererin kennengelernt, die ebenfalls lange in den USA lebte – und nun sind die beiden nach 28 Jahren in Florida nach Deutschland gezogen. Nach Trierweiler.“ – Erik Langer, Gitarrist Kettcar, 2005

„Das was ich dann noch versteh‘, ist Home is, where your heart is

Hamburg besitzt für mich persönlich eine ganz große Bedeutung. Nicht weil ich seit Jahrzehnten mit einem ansässigen, erfolglosen Fussballklub leide, sondern weil die Stadt für mich ein Rückzugsort aus dem Alltag geworden ist. Quasi Urlaub von der Provinz, die meine Heimat ist. Oder Urlaub von der Heimat, die meine Provinz ist. Der Hafen, die Nähe zum Meer, das Weltmännische, all das ist für mich für ein paar Tage wie eine Batterie. Ich habe das Glück, sehr nette Menschen aus Hamburg zu kennen, deren Umgang, Humor und spezielle Art jemanden zu mögen, mich sehr glücklich macht. Über allem steht meine Heimat Trier, meine Geburtsstadt sowie die Geburtsstadt meiner Kinder. Nach Hamburg muss ich dennoch immer wieder zurückkehren. Spätestens wenn ich in der S3 sitze, ertönt von irgendwo her „…an den Landungsbrücken raus, dieses Bild verdient Applaus…„. Und der Wagon ruckelt im Takt.

 

P.S.: Das die Zwischenüberschrift „Hamburg, 8°, Regen“ ein Songtitel von Rantanplan ist, ist mir vollkommen bewusst. Der Song ist aber auch arschgeil. Somit darf die Zeile an dieser Stelle verwendet werden. Punkt.

 

Anspieltipps: Landungsbrücken raus, Ausgetrunken, Wäre er echt

Höre ich dann am liebsten: wenn ich wissen will, wie schön deutsche Sprache ist

 



 

Kettcar – Du und wieviel von deinen Freunden

Genre:Rock
Stil:Indie Pop, Indie Rock
Jahr:2002
Anzahl Titel:11
Laufzeit:42:02

Tracklist

Volle Distanz2:47
Ausgetrunken3:54
Money left to burn4:37
Wäre er echt3:12
Landungsbrücken raus4:45
Balkon gegenüber2:04
Jenseits der Bikinilinie4:34
Lattenmessen3:56
Im Taxi weinen4:00
Hiersein4:33
Ich danke der Academy3:41