Oh je, lang ist’s her. Die letzten Wochen beschäftigt mit Arbeit, Autofahren und unkreativem Geldverdienen. Wenn es nicht so notwendig wäre. Nun gut. Hat die neue Sahneplatte etwas länger gedauert. Dafür war auf unzähligen Autofahrten viel Zeit zum Hören. Kilometer für Kilometer feststecken im „Asphaltkopfkino“. Dabei hat mich im Besonderen eine Platte sehr berührt, von deren Vätern ich mich in den letzten Jahren etwas entfernt wähnte. Sei es, dass das neue Album fünf Jahre auf sich warten ließ, viel mehr aber, dass ich mich nicht mehr angesprochen fühlte. Dabei schufen sie 2002 mit ihrem Debüt MEINE Welt. Meine Gedanken. Meine Sprache. Mein Lebensgefühl. Ein abgenutzter Tonträger, rotiert in CD-Wechslern des Freundeskreises. Nie mehr passte das in Versen Gesagte besser zum Zeitgeist. Bis heute. 15 Jahre später schaffen Kettcar es erneut, mich mit einem Fingerschnippen zu emotionalisieren. Meine Gänsehaut schreibt Ich vs. Wir. In Großbuchstaben.

„Ich wie immer Magnum Mandel, du wie immer was mit Cola …“

Als Kettcar 2012 ihr viertes Album Zwischen den Runden veröffentlichen, spüren sie, dass es so nicht weitergehen kann. Sänger und Gitarrist Marcus Wiebusch sieht die Band am kreativen Tiefpunkt. Und zieht die Notbremse. Er wolle „anders Musik machen, schneller. Nicht so viel labern über Musik“. Bis dahin befinden sich Kettcar auf einem fast zehnjährigen Erfolgszug durch Fanohren, Kritikerblöcke und den Feuilletons des Landes. Immer im Gefühl „Wir gegen den Rest der Welt“. Vier Alben voller Poesie und zustimmendem Kopfnicken. Musikalisch sieht sich Wiebusch allerdings in einem Schraubstock. Die Bandpause stellt er keineswegs bandintern zur Diskussion, er vollzieht sie einfach. Sein Soloalbum bereits im Kopf. Nach zehn Jahren Bandgeschichte sicherlich keine überraschende Entwicklung. Der Prozess allerdings birgt Zündstoff. Bruder und Keyborder Lars begrüßt die Entscheidung. Bassist Reimer Bustorff akzeptiert sie, während Gitarrist Erik Langer sie widerwillig verdauen muss. Der Letzte macht das Licht aus.

Marcus Wiebusch veröffentlicht 2014 sein Soloalbum Konfetti. Und dem Hörer wird schnell klar, es ist kein Album der Indierock-Kompromisse. Wiebusch beugt seinen musikalischen Stil hin zu mehr Zeitgenössigkeit. Bis hin zum anfangs gewöhnungsbedüftigem Sprechgesang im Homophobie anklagendem Stück Die Zeit wird kommen. Und genau jenes Lied steht Pate für die neue verbale Angriffslust, die Kettcar auf den letzten Alben abhandenkam. Die Faust zum Recken bereit. Wie zu guten, alten … But Alive-Zeiten.

Diese Attitüde wird zur zentralen Diskussionsgrundlage im ersten Bandmeeting nach der Pause. Alle Bandmitglieder von Kettcar finden eine Gemeinsamkeit im Wunsch, wieder energetischer zu sein. Und die eigene politische Meinung zu vertreten. Bustorff und Wiebusch finden zusammen eine Sprache über die gemeinsame Arbeit am Theater Kiel. Sie schreiben Songs für die Inszenierung von Schillers Die Räuber, ein Klassiker der Sturm-und-Drang-Epoche. Wiebusch sieht es als „hochpolitisches Stück, in dem es sehr stark um soziale Themen, wie Gerechtigkeit, geht.“

„Und die Zukunft, sie leuchtet so ultramarinblau …“

In punkto Dramaturgie und Text bildet die Arbeit am Theater für Wiebusch eine Initialzündung. Die Entwicklung der Zeit hat die Band geradezu überrollt und Kettcar wollen sich ihren Themen stellen. Brexit, Trump, Erdogan, AfD-Wahlen, Pegida. Es muss Stellung bezogen werden. Der Titel Ich vs. Wir bringt den Inhalt des Albums auf den Punkt. Klein konfrontiert Groß. Politik gegen Menschlichkeit. Mit wem will ich in meinem Leben eigentlich was zu tun haben? Wenn Vollidioten, pardon, der Volkszorn auf die Straße geht und „Wir sind das Volk“ brüllt, meint er eigentlich „Ich bin das Volk“. Das „Wir“ als Deckmantel für Egoisten. Spitzzüngig kann der Albumtitel auch für das Verhalten Wiebuschs vor der Bandpause anspielen. Viele Metaebenen und keine scheint falsch.

Die Songs sind allesamt über jeden Zweifel erhaben und treffen im eigentlichen, wie übertragenden, Sinne den richtigen Ton. In Ankunftshalle trifft Romantik so wunderbar auf Eskapismus, dass der Kern der Menschlichkeit bereits nach einer Minute frei liegt. Genau IHR seid jetzt mal UNSERE Leute. Wagenburg konfrontiert den Hörer permanent mit den Gegensätzen, die der Albumtitel in die Welt malt. In Benzin und Kartoffelchips verbeugt sich Wiebusch textlich vor Bruce Springsteen, der es wie kein zweiter versteht, Geschichten vom „weg, irgendwohin wo es besser ist“ zu erzählen. Sommer ’89 als mitreißend erzählte Geschichte, zieht Parallelen zur aktuellen Flüchtlingsdiskussion und befeuert in ihrem Tempo die durchlebten Emotionen. Wer sich auf aktuelle wie seinerzeitige Fluchtbilder aus den Medien besinnt, den hält es spätestens jetzt nicht mehr still. Große Emotionen bescheren auch Songs wie Auf den billigen Plätzen, Den Revolver entsichern und Trostbrücke Süd. Besonders letzterer als poetische Beobachtung des „Ich“ inmitten des alltäglichen „Wir“.

„Wenn du das Radio ausmachst, wird die Scheißmusik auch nicht besser …“

Mannschaftsaufstellung setzt die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung in den Kontext einer Fußballübertragung am heimatlichen Küchentisch der 1950/60er Jahre. Das Gegenteil der Angst ist der schönste, ehrlichste und emotionalste Song Kettcars seit Nacht vom Album Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen (2005). Musikalisch haben sich die Hamburger auf Ich vs. Wir sicherlich nicht signifikant weiterentwickelt. Müssen sie auch gar nicht. Kettcar sind wieder stark. In Ausdruck, Haltung und Position. Genau das, was sie sich vorgenommen haben.

Zwischen ihrem Debüt und Ich vs. Wir liegen 15 Jahre. Eine lange Zeit, in der auch die eigene Entwicklung ein gutes Stück vorangeschritten ist. Ziele haben sich verschoben, gestrichen und neu definiert. Die Haare weniger und an einigen Stellen grauer. Es gibt Entwicklungen, die sich nicht aufhalten lassen. Andere dagegen schon. Und für diese gibt es Kettcar. Kein Album, dass mich in den letzten Jahren dermaßen zum Fühlen und Nachdenken gebracht hat. Über die eigene Meinung, Haltung und Position. Und den eigenen Platz in der Gesellschaft. „Von den verbitterten Idioten nicht verbittern lassen“. So vieles, was keine Schwäche ist. Auch wenn uns das die anderen weismachen wollen.

Unnützes Kneipenwissen I: Als Inspiration der Geschichte zu Sommer ’89 gilt ein Artikel über das Ehepaar Berthilde und Martin Kanitsch aus Mörbisch im österreichischem Burgenland. Jene verhalfen in jenen Tagen über 400 DDR-Bürgern zur Flucht durch ein Loch im Grenzzaun.

Unnützes Kneipenwissen II: Marcus Wiebusch ist ein großer Fan von Bruce Springsteen und wie er Zusammenhänge von Protagonisten in Geschichten verwebt.

Anspieltipps: Ankunftshalle, Benzin und Kartoffelchips, Auf den billigen Plätzen, Sommer ’89, Gegenteil der Angst


Wenn euch die Sahneplatte gefällt, schaut doch in der Plattenkiste vorbei. Da gibt es noch weitere hervorragende Alben und spannende Geschichten.



Kettcar – Ich vs. Wir

Genre:Rock
Stil:Indie-Rock, Alternative Rock, Pop-Rock
Jahr:2017
Anzahl Titel:11
Laufzeit:43:13

Tracklist

Ankunftshalle3:16
Wagenburg3:50
Benzin und Kartoffelchips3:05
Sommer '89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)4:58
Die Straßen unseres Viertels3:29
Auf den billigen Plätzen3:32
Trostbrücke Süd4:19
Mannschaftsaufstellung3:18
Das Gegenteil der Angst4:14
Mit der Stimme eines Irren3:56
Den Revolver entsichern4:16