Es war der 06. Juni 2004. Der Tag an dem ich mich neu verliebte. Nicht tief, mehr aus einer Bewunderung heraus. Um zwei Uhr nachts wartete ich vor der Bühne der „Alternastage“ auf Rock am Ring auf den sogenannten „Late-Night-Act“. Mit einem guten Dutzend Konzerten in den (Tages-)Knochen. Der Bereich vor der Bühne leerte sich spürbar. Wo sich vorher noch fast 20.000 Menschen gegenseitig Schulter an Schulter standen, entwickelte sich während der letzten Umbaupause eine gespenstische Stille. Am Ende harrten ein paar hundert Menschen vor der großen Bühne aus. Jeder freute sich, nach stundenlanger, körperlichen Nähe in der prallen Sonne, über den persönlichen Platz links und rechts. Das Konzert, auf das ich den ganzen Tag wartete, begann und eine halbe Stunde später war ich verliebt. In eine 30-jährige Irin, die auf 14-Zentimeter-Absätzen zu Electrofunk mehr Rock & Roll verkörperte, als alle Bands zuvor. Tanzen gegen die Müdigkeit. Moloko. Statues.

Schicksalhafter Dialog

Zehn Jahre zuvor in Sheffield. Auf einer Party nähert sich Róisín Murphy dem 13 Jahre älteren Mark Brydon und eröffnet den Dialog mit dem bedeutungsschwangeren Satz „Do you like my tight sweater? See how it fits my body!“. Welcher Mann könnte da einer aufkommenden Unterhaltung wiederstehen? Die beiden finden sich auf Anhieb sympathisch. Sogar dermaßen sympathisch, dass sie einige Wochen nach der Party damit beginnen, sich fest zu verabreden. Brydon ist ein Produzent aus Sunderland und hat in den späten 80er- und frühen 90-Jahren mäßigen Erfolg mit verschiedenen britischen Funk- und Housebands. Murphy stammt aus Arklow in Irland und lebt seit ihrem zwölften Lebensjahr in Manchester. Bevor sie Brydon kennenlernt, besteht ihre einzige musikalische Erfahrung aus einem Kurzzeitengagement als Sängerin einer namenlosen Post Punk-Band.

Ohne nennenswerte Musikausbildung nimmt Brydon sie mit in ein Musikstudio um ihre Stimme aufzunehmen. Die beiden kommen sich näher und beginnen eine Liebesbeziehung. Nebenbei beschließen sie, es mit einer gemeinsamen Band zu versuchen und nennen sich Moloko. Nach dem gleichnamigen Getränk aus der Novelle A Clockwork Orange von Anthony Burgess. 1995 unterzeichnen sie einen Plattenvertrag bei Echo Records und veröffentlichen ihr Debütalbum. Dessen Name steht Pate für den Moment ihrer schicksalhaften Begegnung. Do You Like My Tight Sweater? erscheint im Herbst. Mit einer Mischung aus Trip Hop, Funk, Jazz und Electronica sowie ihrer Single Fun For Me erzielen sie in Großbritannien einen ersten Achtungserfolg. Somit läuft es privat wie auch beruflich für das Paar wie geschmiert.

Emotionen einer Beziehung

Auf der Bühne ist Róisín Murphy ein Blickfang, der mit körperlicher Theatralik und einer Stimme, die zwischen Zuckerpüppchen und Kneipenschlägerschlampe hin und her balanciert, verzaubert. Molokos zweites Album I’m Not A Doctor erscheint 1998 und experimentiert mit Drum & Bass und Synthpop. In der Mitte des Albums befindet sich mit Sing It Back ein unspektakulärer Song, den ein Jahr später der deutsche Produzent Boris Dlugosch dermaßen aufpeppt, dass er als Clubsong weltweiten Erfolg feiert. Auf ihrem dritten Album Things To Make And Do arbeiten Moloko vermehrt mit Livemusikern im Studio zusammen. Im Gegensatz zu ihren ersten beiden Alben, stellt sich mit Things To Make And Do kommerzieller Erfolg ein. Zu Beginn der 2000er-Jahre kommen Moloko in der Welt der rentablen Musik an. 2003 veröffentlichen sie, mit viel Rückenwind, ihr viertes Album Statues.

Auf dem Album findet das Duo zurück zur elektronischen Musik und verarbeitet thematisch verschiedenste Phasen einer zwischenmenschlichen Beziehung. Inklusive aller Höhen und Tiefen. Der, mit einem hörenswerten, langgezogenen Intro ausgestattete, Opener Familiar Feeling steht ein für das Füreinander-bestimmt-sein zweier Menschen. Mit einem Refrain, dem ein Mitsingen nicht zu verwehren ist. Come On packt den Funk aus und lässt die Hüften kreisen, während Murphy von sexuellen Spannungen und Erinnerungen singt. Der Titeltrack Statues sinniert melancholisch über den Grad der Vereinsamung in der Abwesenheit eines geliebten Partners. Bevor mit Forever More ein siebenminütiges Tanzgewitter die letzte trockene Stelle Haut mit Schweißperlen bedeckt. In die gleiche Kerbe haut 100%. Der letzte Song des Albums, Over & Over, baut sich über neun Minuten langsam auf, um noch einmal gefühlbetont auf eine gemeinsame Zeit zurück zu blicken. Und am Ende, ein gemeinsames Kapitel zu beenden.

Imaginäres Eisspray

Over & Over bekommt nach Veröffentlichung des Albums eine autobiografische Bedeutung. Erst trennen sich Murphy und Brydon privat, bevor sie nach einer letzten Tour Moloko als aufgelöst verkünden. Somit besitzt Statues, neben seiner guten Laune und Clubtauglichkeit, in seiner Thematik eine Gänsehautkomponente. Generell ist das Album positiv und macht unglaublich gute Laune. Statues ist der einfachste Weg, sich der fabelhaften Musik von Moloko zu nähern. Mein Tipp: hört die Diskografie der Band einfach in der umgekehrten Reihenfolge. In der Vergangenheit habe ich das Album gerne an Leute verschenkt, die gute Laune gebrauchen konnten. Das Moloko nach Statues ihren gemeinsamen Weg nicht fortsetzten, ist ebenso konsequent wie traurig. Das Albumcover ist im Übrigen eines meiner absoluten Favoriten. Besser kann ein Mensch seinen Charakter und seine Erscheinung nicht darstellen als die triefnasse, zähnefletschende Róisín Murphy, „bewaffnet“ mit zwei Pint Bier. Großartig!

In jener Nacht auf dem Nürburgring, zog Róisín Murphy alle in ihren Bann. Mit unglaublicher Energie schwankte sie in ihrer Präsenz zwischen irischer Droschkenfahrerin und eleganter Vivienne Westwood-Stilikone. An Róisín Murphy zeigt sich, welche Schönheit Ausstrahlung und Leidenschaft erschaffen. Die Hacken ihrer Schuhe waren dermaßen hoch, dass ich bei jedem Sprung vom Piano Angst hatte und imaginär eine Dose Eisspray umklammerte. Aber sie rockte. Sie rockte zu elektronischer Tanzmusik. Es war eines meiner denkwürdigsten Konzerte. Ich erinnere mich genau, wie ich fror, als sich der Bereich vor der Bühne innerhalb der Umbaupause deutlich leerte. Und wie glücklich ich und alle umstehenden Menschen waren, als das Konzert endete. Es war drei Uhr nachts. Niemand stand still. Alle tanzten. Egal was auf der Vorderseite ihrer Shirts stand und wessen Band sie sonst ihr Herz schenkten. Korn. Slipknot. Propaghandi. Alle tanzten zu Moloko.

Unnützes Kneipenwissen I: Der Begriff „Moloko“ entstammt dem russischen Wort für Milch („молоко“).

Unnützes Kneipenwissen II: Róisín Murphy beginnt nach der Auflösung von Moloko eine Karriere als Solokünstlerin. Sie veröffentlicht zwischen 2005 und 2018 sechs Alben.

 

Anspieltipps: Familiar Feelings, Forever More, 100%, Come On, Over & Over

 


Wenn euch die Sahneplatte gefällt, schaut doch in der Plattenkiste vorbei. Da gibt es noch weitere hervorragende Alben und spannende Geschichten.



 

Moloko – Statues

Genre:Electronic
Stil:Alternative Dance, Dance Pop, Trip Hop
Jahr:2003
Anzahl Titel:10
Laufzeit:57:05

Tracklist

Familiar Feeling6:30
Come On4:40
Cannot Contain This5:39
Statues5:23
Forever More7:20
Blow X Blow3:12
100%5:12
The Only Ones4:13
I Want You5:05
Over & Over9:51