Aufgewacht aus dem Winterschlaf, rausgeschaut, Schmuddelwetter. Das Blogjahr 2018 beginnt mit nassen Füssen, Kindern die sich weigern das Haus zu verlassen und Grauschattierungen, an denen Loriot seine helle Freude gehabt hätte. Nun ja. Da muss mehr Sonne rein. Eine Zufallswahl meiner Playlist bringt mir Töne in Erinnerung, die umgehend mein Herz erwärmen. Bilder im Kopf, Geruch in der Nase. Sonne, stickige Partys, Schweiß und Tanz. Nebenbei vielleicht DIE Hymne trauriger Teenager (neben Creep von Radiohead) ihrer Zeit. No Doubt tingeln jahrelang durch Clubs in Kalifornien ohne mit ihrem lebenbejahenden Ska große Beachtung zu finden. Dann durchbricht ein Song die Party der Spaßgesellschaft und lässt schmerzerfüllte Menschen auf den Tanzfluren zurück.

Kleine Schwester

1987 in Anaheim, Kalifornien. Eric Stefani und John Spence, beide im Teenageralter, trommeln ein paar Freunde zusammen und entscheiden, gemeinsam Musik zu machen. Stefani, mit einem Keyboard ausgestattet, stellt seine Garage für Proben zur Verfügung. Die Band umfasst, inklusive Trompeter und Saxofonisten, neun Mitglieder. Darunter seine kleine Schwester Gwen, die zwar bei den „großen Jungs“ mitspielen, sich aber nur um den Hintergrundgesang bemühen darf. Mit großem Selbstbewusstsein ausgestattet, nennen sie sich No Doubt und spielen ihre ersten Gigs. Das erste halbe Jahr der Band läuft gut an und sie erspielen sich kurz vor Weihnachten 1987 einen Auftritt in West Hollywood vor Mitarbeitern einer Plattenfirma. Einige Tage vor diesem Auftritt nimmt sich Sänger John Spence das Leben und stürzt die junge Band damit in ein Trauma.

Nach einigen Wochen Auszeit versuchen es No Doubt mit Trompeter Alan Meade am Mikrofon, dieser gibt kurze Zeit später frustriert das Zepter an die einzige Frau in der Band. Nach Monaten im Schattendasein, steht die junge Gwen Stefani plötzlich im Rampenlicht und nimmt diese Rolle unter vollem Körpereinsatz an. Die junge Frau, keine 20 Jahre alt, entpuppt sich als Rampensau und verleiht der Ska-Band die passende Bühnenpräsenz. In Südkalifornien erspielen sich No Doubt Anfang der 1990er-Jahre einen Namen und treten vorwiegend in Clubs oder Colleges auf. Motiviert veröffentlichen sie 1992 ihr selbstbetiteltes Debütalbum.

„Take this pink ribbon of my eyes …“

Sie scheitern kläglich. Die Plattenfirma veröffentlicht keine Singles und veranlasst keinerlei Radiopräsenz. Dazu kann sich ihr Sound nicht gegen den alles überstrahlenden Grunge behaupten. 30.000 Platten verkaufen sich, bedeutet, erstmal die Toten zählen. Gründer Eric Stefani beginnt sich von der Gruppe zu lösen und ist nur noch sporadisch an den Tasten. Die Plattenfirma beschneidet im Vorfeld seinen kreativen Führungsanspruch und stellt der Band Produzent Matthew Wilder zur Seite. Ein Jahr später veröffentlichen No Doubt ihr nächstes Album und vermischen ihren Sound, auf Anraten Wilders, mit Einflüssen aus New Wave und Grunge. Gwen Stefani bekommt größere Anteile am Songwriting und gibt den Texten der Band eine persönliche Note.

Im Herbst 1995 veröffentlichen No Doubt ihr drittes Album „Tragic Kingdom„, für welches Eric Stefani ein letztes Mal Anteile zum Sound und Songwriting beisteuert. Für das Album quält Produzent Wilders die Band bis aufs Blut. Die Aufnahmen erstrecken sich über elf Studios im Großraum Los Angeles und insgesamt 31 (!) Monate. Endlich veröfffentlichen No Doubt eine Single. Die hat es direkt in sich. „Just A Girl“ schießt in die amerikanischen Charts und stellt Gewn Stefani prominent in den Mittelpunkt. Die Band schafft es, Kalifornien für Auftritte zu verlassen und landesweite Supportshows zu spielen. Tragic Kingdom ist in Amerika 15 Monate auf dem Markt, als in Europa Anfang 1997 die dritte Single „Don’t Speak“ und, in dessen Anschluss, das Album erscheint.

Faule Orangen

Der Song macht No Doubt und Tragic Kingdom über Nacht einen Welterfolg. Kein Radiosender, kein MTV, kein Plattenladen mehr ohne das Gesicht von Gwen Stefani. Diese verarbeitet in Don’t Speak die Trennung von Bassist Tony Kanal. Beide führten zu diesem Zeitpunkt eine siebenjährige Beziehung, welche die ganzen Jahre ein offenes Geheimnis blieb. In der Band bestand seit den ersten Tagen unter den Jungs der Ehrenkodex, keine Beziehung mit der einzigen Frau in der Band zu beginnen. Mit Herzschmerz nimmt Gwen Stefani eine Klavierimprovisation ihres Bruders Eric, schreibt den Text und trifft den Nerv von vielen traurigen Teenagern (und sonstigen Menschen) weltweit.

Don’t Speak ist, mit ein wenig Verspätung, der globale Türöffner. Dabei ist das komplette Album (bis auf ein, zwei Ausnahmen) pure Freude. Schnelle Nummern wie „Spiderwebs„, „Just A Girl„, „Different People„, „Sixteen“ oder „Sunday Morning“ machen Laune und lassen Sonne in den Raum. No Doubt schaffen es, die Energie ihrer Konzerte (und die ihrer Frontfrau) auf Platte zu bringen. Ob Ska, Reggae oder New Wave, zum Tanzen, Hüpfen oder Mitsingen bei offenem Autofenster, lädt Tragic Kingdom jederzeit ein. Lasst euch vom Artwork der Platte nicht verwirren, mit Gwen Stefani gibt es keine faulen Orangen.

Picasso? Karstadt!

Ironisch, wie das Video zu Don’t Speak den weiteren Werdegang von No Doubt vorwegnimmt. Die Musikindustrie instrumentalisiert Gwen Stefani nach dem Erfolg des Albums als Postergirl und stellt sie in gleißendes Scheinwerferlicht. Realität und Videofiktion verschmelzen. Den Rest der Band kennt bald kaum noch jemand, auch wenn es sich Schlagzeuger Adrian Young nicht nehmen lässt, sich bei öffentlichen Auftritten öfters ungefragt auszuziehen. Das Missverhältnis Stefani zur Rest der Gruppe, führt nach musikalischer Degenerierung in den Folgejahren zur Auflösung der Band im Jahr 2004. Zeitgleich beginnt Stefani eine Solokarriere und verabreicht „kariesfördernden Zuckerpop“ an ihre Hörer. Ihre Energie weicht dickem Make-Up. Selbst die Reunion der Band 2009 stellt Kritiker und Fans nicht wirklich zufrieden. Heute sitzt die fast 50-jährige in der Jury der amerikanischen Ausgabe von „The Voice“ und tauscht durchgeschwitztes Tank Top gegen roten Buzzerknopf.

Zu Zeiten von Tragic Kingdom konnte ich ihr stundenlang zusehen. Wie sie verschwitzt über die Bühne wirbelt, animiert und antreibt. Das Video zu Don’t Speak zeigt Ausschnitte, die ihre Energie hervorragend visualisieren. Aber bereits vor zehn Jahren hätte ich keine Lust gehabt, neben ihr aufzuwachen. Der Lauf der Zeit. Zum Abschluss eine kleine Geschichte, wie ich in Besitz von Tragic Kingdom kam: Im Januar 1997 ging es als Wandertag mit der Schule ins Kino. „Mein Mann Picasso“ mit Anthony Hopkins. Der Film berührte das Kulturverständnis meines 17-jährigen Ichs so sehr, dass ich während des Films mein Geld zusammenkratzte. Um mich auf den Weg in den, in unmittelbarer Nachbarschaft befindlichen, Karstadt aufzumachen. Don’t Speak war das Ziel, die im Preis reduzierte Tragic Kingdom das Ergebnis. Und für Bildende Kunst hat es als Fach im mündlichen Abitur auch noch gereicht. Geregnet hat es ebenfalls. Glaube ich. Ist eine Sahneplatte. Hört auf mich.

Unnützes Kneipenwissen I: Eric Stefani hat sich nach dem Ausstieg bei No Doubt beruflich nicht verschlechtert. Er arbeitete in den Folgejahren als Zeichner bei den Simpsons. Achtet mal in diversen Folgen der ersten neun Staffeln auf den Vorspann.

Unnützes Kneipenwissen II: Obwohl Gwen Stefani einen Collegeabschluss in Kunst besitzt, litt sie in ihrer Schulzeit unter Dyslexie. Sie wiederholte aus diesem Grund ein Jahr der High School.

… wanna see you sweat …

Unnützes Kneipenwissen III: Der Albumtitel „Tragic Kingdom“ ist eine Verballhornung des Spitznamens für Disneyland „Magic Kingdom“

 

Anspieltipps: Just A Girl, Don’t Speak, Spiderwebs, Sunday Morning, Different People

Höre ich dann am liebsten: In so einem richtig engem, stickigen Club. Am besten vor 15 Jahren.

 


Wenn euch die Sahneplatte gefällt, schaut doch in der Plattenkiste vorbei. Da gibt es noch ganz viele weitere hervorragende Musik und spannende Geschichten.



No Doubt – Tragic Kingdom

Genre:Rock
Stil:Ska, New Wave, Pop-Rock
Jahr:1995
Anzahl Titel:14
Laufzeit:59:24

Tracklist

Spiderwebs4:28
Excuse Me Mr.3:04
Just a Girl3:29
Happy Now?3:43
Different People4:34
Hey You3:34
The Climb6:37
Sixteen3:21
Sunday Morning4:33
Don't Speak4:23
You Can Do It4:13
World Go 'Round4:09
End It on This3:45
Tragic Kingdom5:31