Sommer 1996 – in meiner Erinnerung eine herrliche Zeit. Das letzte Mal, in der das Leben eine ganze Menge persönlicher Verantwortungen auf die lange Bank schob. Keinen Führerschein (dank Gesetz), keine Freundin (dank Natur) und in der Schule zählten die Noten noch nicht für das Abitur. Ein Sommer als unbeschwerter 17-jähriger. Ich erinnere mich an lange Tage im Freibad, lange Abende mit Freunden und Ausflüge als Motoroller-Beifahrer in die Stadt. Letzteres war bei meiner Körperstatur sehr amüsant anzuschauen. Oasis lieferten mit ihrem zweiten Album (What’s The Story) Morning Glory? die perfekte Untermalung für diese Zeit. Das Album zählt heute zu meinen allerliebsten Schätzen, vor allem im Sommer höre ich es nach wie vor am liebsten. Ein neues Selbstbewusstsein der englischen Musikkultur, bestickt mit tausenden „Cool Britannia!“-Badges. Oasis als Speerspitze, das nordenglische Proletariat. „We are bigger than the Beatles“, sagte Noel Gallagher nach Veröffentlichung des Albums. Laut widersprechen konnte ich nie.

Pack schlägt sich….

In den frühen Jahren von Oasis hatte Noel Gallagher ein unglaubliches Reservoir an geschriebenen Songs, die er nur „aus der Schublade ziehen musste“. Definetly Maybe wurde 1994 zum meistverkauften Debütalbum in Großbritannien, ein Jahr später ging es an die Aufnahmen zum Nachfolgealbum. Bereits in frühen Jahren mit dem Gebaren einer Fußballfankurve ausgestattet, wurden Oasis dank Geheiß ihres Produzenten Owen Morris „zwangsversetzt“. Zur Aufnahme ging es in eine kleine walisische Stadt namens Monmouth. Das sollte helfen, den richtigen Fokus zu finden.

Noel hatte zwei Songs geschrieben, die aus seiner Sicht das Herzstück des Albums bilden sollten: Wonderwall und Don’t Look Back In Anger. In einem seltenen Anflug von Nächstenliebe fragte er seinen Bruder Liam, welchen der beiden Songs er auf dem Album singen möge. Liam hatte mitbekommen, das Noel Wonderwall für seine damalige Freundin Meg Matthews geschrieben hatte und wählte, in vollem Bewusstsein dessen, eben diesen.

Als es im Anschluss an die Aufnahme zu Don’t Look Back In Anger ging, eskalierte die Situation. Im Manchester-Style…

„When the time came to do ‘…Anger’, Liam wasn’t needed so went to the pub. Friendly man that he is, he proceeded to invite around 30 pissed Monmouth locals back to the studio from local boozers The Old Nag’s Head and The Bull. Noel turned up a few hours to find […] “half of fucking Monmouth” in his room, and “complete strangers playing with £30,000 worth of guitars. […] A punch-up ensues, and Noel chases Liam out with a cricket bat.” Tom Howard, NME, 2016

Am nächsten Morgen verließ Noel Gallagher die Band. Das Album war gestorben, niemand wusste, ob die Band weiterhin existierte. Erst ein paar Wochen später kehrte er zurück, sagte nichts und produzierte das Album zu Ende. Bis zum heutigen Tage verkaufte es sich weltweit über 22 Millionen Mal.
Die zu suchende Schönheit
Oasis polarisieren, dessen bin ich mir bewusst. Beginne ich ein Gespräch über die Band winkt die eine Hälfte ab, die andere verzieht das Gesicht. Dennoch können nahezu alle die Songs mitsingen. Ich gebe zu, dass die Gallagher-Brüder den Preis für die „Dümmsten Rockstars“ mühelos gewinnen, verteidigen und unangefochten mit ins Grab nehmen können. Abseits der Bühne kann ich ihnen nicht zuhören. Wenn sie nicht musizieren schmerzt es nur.
Dennoch faszinieren sie mich, weil sie ihre jeweilige Aufgabe perfekt beherrschen. Noel Gallagher agiert aus meiner Sicht als Songwriter auf Lennon/McCartney-Niveau. Das sage ich bewusst als jemand, für den die Beatles die Ursuppe aller heutigen Populärmusik sind. Liam Gallagher hat diese arrogante „Cockney-Frontmann“-Attitüde, die ich so sehr mag. In vertauschten Rollen wirken beide blass und belanglos. Ohne Frage sind beide sind Vollprolls. Aber ihnen gelingt, dass Melodien wie zarte Pflänzchen durch dicksten Beton sprießen.
„Where were you, while we were getting high?“

(What’s The Story) Morning Glory? ist für mich eine ganz besondere Platte. Ich erwarb das Album auf einer der damaligen „Sommer-Roller-Touren“ in die Stadt. Wonderwall hatte mich zu diesem Zeitpunkt bereits umgehauen. Für mich der schönste geschriebene Song in meiner bis heute andauernden Lebenszeit. Das einzige Lied, dass ich in jedem Gemütszustand gleichermaßen hören kann, egal ob Freude, Trauer, Wut oder Ausgelassenheit. Ich bekomme heute noch in gleichem Maße Gänsehaut.

Auch alle anderen Songs des Albums zeigen mit keinem Ton Schwäche. Hello fällt mit der Tür ins Haus und verzichtet aufs Klopfen. Don’t Look Back in Anger als weiterer Jahrhundertsong neben Wonderwall. Some Might Say mit Gaga-Text („…itchin in the kitchen…“) und Partyattitüde. Cast No Shadow rührte Rhythmusgitarrist Paul „Bonehead“ Arthurs beim erstmaligen Hören zu Tränen. She’s Electric klaut so frech bei den Beatles (While My Guitar Gently Weeps), dass es schon wieder nordenglisch-charmant ist. Und Champagne Supernova als abschließende Hymne, die alles auf die Spitze treibt und den Hörer mit Gänsehaut gleich einer Raufasertapete zurücklässt.
Gerade wenn ich darüber schreibe, merke ich, wie sehr ich jeden einzelnen Ton dieser Platte liebe.
Anekdote I
Zwei kleine abschließende, zeitversetzte Anekdoten zum Album:
Über Silvetser 1999/2000 waren wir mit einer Gruppe von Freudnen in einem Ferienpark in Holland. Die Gruppe trennte sich fein säuberlich in einen „Single-“ und einen „Nicht-Single“-Bungalow (clever!). Als stolzes Mitglied des „Single“-Bungalows (verdammte Jugend!), hatte ich eine Handvoll Tonträger für die musikalische Untermalung des, zugegebenermaßen nicht sehr aktiven, Alltags dabei. Relativiert gesagt, wir streßten uns gegenseitig nicht mit unnützen Aktivitäten… In diesen Tagen lief Morning Glory sehr häufig. Es erinnert mich stets an die lieben, damals anwesenden Menschen, die auch heute noch in Teilen mein Lebens bereichern.
Anekdote II
Ende 2016 beging ich meine letzte Weihnachtsfeier in meiner alten Agentur. Wissend, dass dies die letzte Feier mit mir sehr liebgewonnen Menschen sei. Wie immer gab es viel Tamtam und einen DJ, der die, über die Getränke ausgelassene, Partymeute in Bewegung hielt. Dieser wagte es, um vier Uhr nachts den letzten Song anzukündigen. Noch unverschämter, er machte ernst und packte sein Equipment erbarmungslos zusammen. Dabei hatten wir nur noch einen Wunsch, wir wollten zum Abschluss Wonderwall hören.
Alles Flehen half nichts, so dass wir als Zeichen des Protestes den Song spontan a cappella anstimmten. So gut das um vier Uhr nachts klappt. Alle noch Anwesenden sangen mit – den kompletten Song wohlgemerkt. So hatte der DJ eine musikalische Untermalung seines Zusammenpackens und ich einen wunderschönen Schlusspunkt meiner zwölfjährigen Agenturkarriere. An dieser Stelle DANKE an alle, die sich daran erinnern können, dabei gewesen zu sein! Ganz besonders an Christian, für den es ab einem bestimmten Zeitpunkt keinen Grund mehr gibt, NICHT zu singen. Guter Mann!
Unnützes Kneipenwissen: Die Straße auf dem Cover ist die Berwick Street in Soho, London. Die beiden sich begegnenden Personen sind DJ Sean Rowley und Albumcoverdesigner Brian Cannon (mit dem Rücken zur Kamera). Als Fun Fact steht im Hintergrund auf dem linken Gehweg Produzent Owen Morris, der sich die Masterpressung des Albums vors Gesicht hält. Damals war die Berwick Street voll mit Platenläden. Ich wäre sehr entzückt, würde mir ein Leser der zufällig in London ist ein Foto der heutigen Berwick Street schicken. Danke im Voraus!
Auflösung: Dankenswerterweise ist mir bereits ein aktuelles Foto zugegangen. Bitte checkt dazu den Zusatzbeitrag.

Anspieltipps: ALLES

Höre ich dann am liebsten: Scheiß auf Verantwortung

 



 

Oasis – (What’s The Story) Morning Glory?

Genre:Rock
Stil:Classic Rock, Britpop
Jahr:1995
Anzahl Titel:12
Laufzeit:50:08

Tracklist

Hello3:21
Roll With It3:59
Wonderwall4:18
Don't Look Back In Anger4:48
Hey Now!5:41
Untitled0:44
Some Might Say5:29
Cast No Shadow4:51
She's Electric3:40
Morning Glory5:03
Untitled0:39
Champagne Supernova7:27