Anfang 1993 war es soweit. Äußere Umstände führten zu Quantensprüngen in meinem Leben. Meine beiden Brüder waren zuhause ausgezogen. Das bedeutete, ein neues Zimmer für mich! Wahnsinn! Sogleich stand ich vor einer Wahl, da beide Brüder ein leergeräumtes Habitat hinterließen. Das eine Zimmer war doppelt so groß wie das andere, somit fällt die Wahl eigentlich leicht. Ich entschied mich dennoch für das kleine Zimmer. Warum? Es hatte einen Fernsehanschluss! Wieder Wahnsinn! Dann kam mein Vater noch zu dem glorreichen Entschluss, eine Satellitenschüssel anzuschaffen. Dreifach Wahnsinn! Mehr als fünf Programme. Mich interessierte vor allem eins – MTV. Im allerersten Video, was ich in meinem neuen Zimmer sah, lief ein Mann in voller Melancholie über im Stau stehende Autos. R.E.M. schufen mit Automatic For The People ein Meisterwerk der 1990er-Jahre.

Im Gegensatz

1992 sind R.E.M. in der Musikwelt etabliert. Ihr Album Out Of Time von 1991 hatte sich millionenfach verkauft und mit Losing My Religion einen weltweiten Hit. Bereits in den 1980ern hat die Band aus Athens, Georgia sechs Studioalben veröffentlicht. Bis auf eine Handvoll Achtungserfolge ohne große Popularität. Im Stil eher Alternative oder Indie, ein krasser Gegensatz zum Produzentenpop dieses Jahrzehnts. Die Songs laufen auf kleinen Radiostationen oder an diversen Colleges. Mit Out Of Time ändert sich die Situation schlagartig. Wieder im Kontrast zur globalen Musikentwicklung, geraten die neuen Songs von R.E.M. poppiger und eingängiger. Michael Stipe, Mike Mills, Peter Buck und Bill Berry sind sich einig, dass die Aufnahmen nach Out Of Time wieder in Richtung Rock tendieren.

Die neuen Songs ergeben sich anfangs komplett aus Fragmenten diverser Jamsessions. Die Demos der Stücke Drive, Try Not To Breathe und Nightswimming entstanden bereits 1990. Bei den ersten neuen Aufnahmen, war Sänger Michael Stipe nicht zugegen. Die Band war gespannt, welche Texte er zu den Aufnahmen schreibt. Obwohl R.E.M. vorhatten, eine rockigere Richtung einzuschlagen, gerieten die fertigen Songs melancholisch. Peter Buck erklärte, dass am Ende des Entstehungsprozesses das zentrale Thema „Verlust und Trauer“ stand. Ein typisches Lebensgefühl junger Menschen, die in ihre 30er „einbiegen“. Michael Stipe eröffnete mehr Nähe als geplant.

Speerspitze

Der Albumtitel „Automatic For The People“ ist eine Reminiszenz. Ein bevorzugter Diner in ihrer Heimatstadt Athens, Weaver D’s Delicious Fine Foods, warb mit jenem Motto. Im Booklet findet sich eine Danksagung R.E.M.s an das Etablissement. Das Album erschien im Oktober 1992. Mitten auf dem Höhepunkt des Grunge, der in jenen Jahren alle anderen amerikanischen Musikrichtungen unter den Teppich kehrte. Automatic For The People avancierte zum Meilenstein und einer der erfolgreichsten Platten des Jahrzehnts. Für mich persönlich eine Speerspitze amerikanischer Musik. Zeitgleich eine meiner ersten Assoziation, wenn ich an Musikalben der 1990er denke. Ohne den damaligen Mainstream zu bedienen. Das Album stieg auf Platz #1 der amerikanischen und britischen Charts.

Die Platte ist wie aus einem Guss. Drive als schnodderiger Opener. The Sidewinder Sleeps Tonight als positiver Sonnenstrahl, bevor Everybody Hurts das Wort „Schmerz“ mit Musiktönen buchstabiert. Ignoreland, Star Me Kitten, Man On The Moon, Nightswimming, Find The RiverAutomatic For The People lässt nicht los. Vor allem Nightswimming als eine der schönsten Balladen überhaupt, ohne sich in Kitsch zu winden. Was bei einem Klavier als Hauptinstrument ein schmaler Grat ist. Und während Michael Stipe scheinbar geistesabwesend in Melancholie über die Autos steigt, genieße ich die neuen Vorzüge des Musikfernsehens.

Kneipe

Automatic For The People ist eine berührende Platte. Alle Songs perfekt in ihren Arrangements. Sollte ich in meinem Leben eine Kneipe aufmachen, das Album würde jeden Tag laufen. Und JEDER Mann träumt davon eine Kneipe aufzumachen, also ernst nehmen! R.E.M. haben diesen (kommerziellen) Erfolg nicht mehr wiederholt. Sie blieben jedoch bis zu ihrer Auflösung 2011 in der Bel Etage amerikanischer Rockmusik. Automatic For The People passt perfekt in diese Jahreszeit, legt das Album definitiv mal wieder auf. Vor kurzem erschien zum 25. Geburtstag des Albums eine Deluxe Edition, mit einem schönen Konzertmitschnitt aus ihrer Heimatstadt Athens. MTV ist (so gut wie) tot und ich wohne schon lange nicht mehr auf zwölf Quadratmetern. Und meine Eltern legten ein paar Jahre später einen Fernsehanschluss in das große Zimmer. This is how it goes …

Unnützes Kneipenwissen I: Die Refrainzeile von The Sidewinder Sleeps Tonight ist selbst für Muttersprachler ohne Zungenbruch kaum zu artikulieren. Deswegen an dieser Stelle nochmal schwarz auf weiß, zum Lesen und Merken: „Call me when you try to wake her up“.

Unnützes Kneipenwissen II: Die Streicherarrangements in „Drive“, „The Sidewinder Sleeps Tonight“, „Everybody Hurts“ und „Nightswimming“ stammen von John Paul Jones, dem Bassisten von Led Zeppelin.

… so viel zu erzählen …

Unnützes Kneipenwissen III: Der Song Man On The Moon handelt in Reminiszenzen von Andy Kaufman, einem amerikanischen Comedian der 1970er Jahre. Laut Michael Stipe war er für ihn eine große Inspiration.

Unnützes Kneipenwissen IV: Michael Stipe und Kurt Cobain waren eng befreundet. Laut eigener Aussage war es Stipe wichtig, in einem Song mehr „Yeahs“ einzubinden als Cobain in „Lithium„. So kommt Man On The Moon auf 56 Yeahs – gegenüber 48 in Lithium.

 

Anspieltipps: Drive, Nightswimming, Man On The Moon, Try Not To Breathe

Höre ich dann am liebsten: irgendwann in meiner eigenen Kneipe „Im Stress“



R.E.M. – Automatic For The People

Genre:Rock
Stil:Alternative Rock
Jahr:1992
Anzahl Titel:12
Laufzeit:47:03

Tracklist

Drive4:31
Try Not to Breathe3:49
The Sidewinder Sleeps Tonite4:05
Everybody Hurts5:16
New Orleans Instrumental No.12:12
Sweetness Follows4:19
Monty Got a Raw Deal3:16
Ignoreland4:26
Star Me Kitten3:15
Man on the Moon5:12
Nightswimming4:15
Find the River3:49