2006 sehe ich die Zielgerade und biege auf sie ein. Mein Studium nähert sich dem Ende, die letzten Scheine baumeln vor meiner Nase und sind greifbar. Diplomprüfungen? Kommen zu schnell. Thema für die Diplomarbeit? Hat noch Zeit. Die vergangenen, intensiven und exzessiven Jahre lasse ich Revue passieren. Die Stimmung küsst eine leichte Melancholie. Die eigene Zukunft ist ein leeres Heft, dessen Seiten beim ersten Aufblättern leise knistern. Wohin führt mein Weg? Diese Orientierungslosigkeit am Ende eines Lebensabschnitts zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Abitur, Ausbildung, Studium – dass „der Weg beim Gehen entsteht“ ist für mich wahrlich kein Kalenderspruch. Womit ich mir im Sommer 2006 sicher war, ich will mein künftiges Leben in meiner Heimat aufbauen. Dazu liefern Tomte den Soundtrack. Buchstaben über der Stadt ist wie das gemeinsame Austreten von Laternen.

Landflucht

Tomte haben ihre Wurzeln in der Provinz. Genauer betrachtet, im niedersächsischen Städtchen Hemmor, Landkreis Cuxhaven. Keine zehntausend Einwohner, dafür drei Jungs, die als Teenager gegen Ende der 1980er Jahre Punk und Metal spielen. Sie gründen eine Band und nennen sich Warpigs. Eine Huldigung an Black Sabbath. (Glücklicherweise) ändern sich junge Menschen mit fortschreitender Adoleszenz. Die Jungs entdecken amerikanische Indie-Musik. Pavement oder Swog heißen die neuen Vorbilder. So wollen sie klingen. Ach ja, die „Jungs“ sind Thees Uhlmann (Gesang, Gitarre), Christian Stemmann (Bass, Gesang) und Peter Heinßen (Schlagzeug). Als der Bandname nicht mehr zur dargebotenen Musik passt, benennen sie sich Anfang der 1990er-Jahre in Tomte um.

Nach dem Abitur 1993 geht es nach Hamburg um ein Jahr später, halbprofessionell, ein Demotape aufzunehmen. Indiemusik mit lyrischen Texten findet in der Zeit von Grunge und Alternative keine große Beachtung. Tomte betreiben ihr Dasein in Teilzeit. 1996 beginnt Thees Uhlmann in Köln ein Lehramtsstudium (Politik, Englisch). Zwei Jahre später erhalten Tomte die Chance, mit Marcus Wiebusch von …But Alive auf dessen Label B.A. Records ihr Debütalbum aufzunehmen. Du Weißt, Was Ich Meine ist geradeaus, mit vielen kleinen Geschichten aus dem Kosmos der Band. Sie schaffen es, die Grundgedanken des Punks mit dem Sound und der Attitüde der Hamburger Schule à la Tocotronic zu verbinden. Apropos Tocotronic. 1999 begleitet Thees Uhlmann die befreundete Band auf Tour und schreibt deren Tourtagebuch. Tomte erscheinen auf dem Radar.

„Ich bin ein guter Junge, heute mache ich mich schick …“

2000 erscheint das zweite Album, Eine Sonnige Nacht. Um es zu veröffentlichen, gründen Tomte ein eigenes Label, Hotel van Cleef. Das Album zeigt sich erwachsener als das Debüt, die Songs finden Anleihe bei Oasis (Korn & Sprite) oder The Smith. Das Musikmagazin Intro kürt Eine Sonnige Nacht zum besten deutschsprachigen Rockalbum 2000. Für Gründungsmitglied Christian Stemmann ist 2001 Schluss. Band und Aufwand sind zu groß, Oliver Koch ersetzt ihn am Bass. Um eine größere Professionalität in Studioarbeit und Aufnahme zu garantieren, gründet Uhlmann gemeinsam mit Wiebusch und Reimer Bustorff von Kettcar das Label Grand Hotel van Cleef. Ein Zusammenschluss der kleinen Labels B.A. Records und Hotel van Cleef. Dieser Schritt ermöglicht einerseits Kettcar die Aufnahme ihres Debütalbums Du Und Wieviel Von Deinen Freunden und andererseits Tomte die Aufnahme ihres dritten Werks Hinter All Diesen Fenstern.

Hinter All Diesen Fenstern wird zum Quantensprung für Tomte und katapultiert die Band, gemeinsam mit den Hamburger Kollegen, in das Herz der Kritiker und des Feuilletons. Produktion und Songwriting sind im Einklang auf hoher Qualität.  Ihr viertes Album, Buchstaben Über Der Stadt, steckt das Banner auf den Indiegipfel und erreicht den Zenit in punkto Eingängigkeit, Harmonie, Gesang und Lyrik. Hamburg regiert das Sommerradio, die Decke im Park und unterlegt Studentendiskurse. Das Album ist aus einem Guss ohne Lücken. Ich Sang Die Ganze Zeit Von Dir ist eins der schönsten deutschsprachigen Liebeslieder ever. So Soll Es Sein zeigt die neue Bandbreite an Instrumenten, dank Neumitglied Max Schröder am Keyboard. Songs wie New York, Walter & Gail oder Norden Der Welt schalten das Kopfkino auf Dauerbetrieb und lassen den Hörer imaginär aus dem Zugfenster blicken. Zum Gedanken schweifen. Ein Album wie ein warmer Pulli.

Stromkästen der Provinz

Nur engstirnige Schubladendenker werfen Buchstaben Über Der Stadt vor, sich dem ursprünglichen Indie-Gedanken zu entfernen. Mir ist das total egal. Die Platte ist wunderschön. Mit jedem Ton, mit jedem Wort. Tomte lösen sich 2012 nach einem weiteren Album (Heureka, 2008) auf. Obwohl es über die Definition des „Auflösens“ innerhalb der Band verschiedene Ansichten gibt. Uhlmann spricht von einer Bandpause, die anderen von einer Trennung. Alle Mitglieder gehen eigenen Projekten nach, Uhlmann veröffentlicht zwei Soloalben. Sein Debütroman als Autor (Sophia, der Tod und ich) erscheint 2015.

Während Kettcar für mich die Sehnsucht nach etwas Großem, Urbanem intonieren, sehe ich Tomte als Musik für die Stadtflucht. Idylle. Land. Hemmoor. Tomte klingen nach ausgetretenen Laternen, Fahrten in der Regionalbahn und Sitzen auf dem Stromkasten. Geschichten, betrachtet aus dem eigenen Fenster. Auch wenn Trier das Prädikat „Großstadt“ knapp erreicht, so habe ich die ersten zwanzig Jahre meines Lebens in einer Kreisstadt verbracht. Genauso fühlen sich Tomte an. Nichts, wofür es sich zu schämen gibt.

Unnützes Kneipenwissen I: Der Name „Tomte“ stammt vom Kinderbuch „Tomte Tummetott“ von Astrid Lindgren.

Unnützes Kneipenwissen II: Thees Uhlmann spielt 2005 im Film „Keine Lieder Über Liebe“ Gitarre in der fiktiven Hansen Band um Sänger Jürgen Vogel. Weitere prominente Bandmitglieder: Marcus Wiebusch (Kettcar – Gitarre), Felix Gebhardt (Home Of The Lame – Bass) und Max Schröder (Tomte, Olli Schulz Und Der Hund Marie – Schlagzeug). Sehenswerter Film, hörenswerter Soundtrack.

… was noch? …

Unnützes Kneipenwissen III: 2007 lädt das Goethe-Institut Tomte zu einer kleinen Tour nach Russland ein.

 

Anspieltipps: Ich Sang Die Ganze Zeit Von Dir, So Soll Es Sein, New York, Was Den Himmel Erhellt

 


Wenn euch die Sahneplatte gefällt, schaut doch in der Plattenkiste vorbei. Da gibt es noch weitere hervorragende Alben und spannende Geschichten.



 

Tomte – Buchstaben Über Der Stadt

Genre:Rock
Stil:Indie Rock, Indie Pop
Jahr:2006
Anzahl Titel:10
Laufzeit:42:40

Tracklist

Ich sang die ganze Zeit von dir4:22
So soll es sein3:32
Was den Himmel erhellt4:31
New York4:47
Walter & Gail4:57
Norden der Welt4:18
Warum ich hier stehe4:20
Auf meinen Schultern3.24
Sie lachen zu recht und wir lachen auch4.14
Geigen bei Wonderful World4.15