So, genug der Vergangenheitsaufklärung der letzten Woche, dieser Beitrag dreht sich wieder um die Zwillinge. Genauer gesagt, um 50 Prozent davon. Emil hört einen Song, hält kurz inne, um im nächsten Moment auf dem Rücksitz zu eskalieren. Der Ursprung der wilden Zappelei liegt ein paar Jahre zurück. 2002 warteten wir in der prallen Mittagssonne in Weeze, Kreis Kleve, auf dem letztmalig stattfindenden Bizarre Festival, auf die nächste Band. Guter Platz, mitten im Pit (dem abgetrennten Bereich direkt vor der Bühne). Es war unglaublich heiß. Die Ordner spritzten uns regelmäßig mit einem Schlauch ab und scheuchten, zwecks Gewinnmaximierung, mobile Eisverkäufer durch unseren Bereich. Natürlich reichte die Kohle nicht für ein Eis, den kostenlosen Wasserstrahl mit dem schwachen Druck eines Urinstrahls nahmen wir dennoch gerne. Von Tropfen, heißen Steinen und so. Was ich in den folgenden Minuten zu sehen bekam, glich einer nordischen Rock-Revue. Bikerclub meets Rocky Horror Picture Show. Gestatten, Turbonegro!

Feuerwerk im Po

In jenem Sommer 2002, haben sich Turbonegro gerade wieder zusammengeschlossen, um ein paar Shows zu spielen. In den vier Jahren davor liegt die Band auf Eis, da es dem Sänger Hank von Helvete aufgrund seiner Heroinabhängigkeit nicht möglich ist, aufzutreten. Turbonegro gründen sich 1989 in Oslo und spielen sich mit ihrem Mix aus Noise Rock, Death Punk und Metal durch kleine Clubs in Skandinavien. 1993, nach mehreren Wechseln am Mikrofon, stößt von Helvete (bürgerlich Hans Erik Dyvik Husby) zur Band und beeindruckt mit seiner exzessiven Bühnenpräsenz. Apropos Präsenz: Seit ihren Anfangstagen kleiden sich Turbonegro auf der Bühne in Kostüme.

Sind es am Anfang willkürliche Outfits, kreieren sie ab 1995 ihre bis heute unverwechselbaren Markenzeichen. Eine androgyne Mischung aus Denim-Matrosen-Elementen, unterstützt durch ordentlich Schminke und Feuerwerkskörper, die sich von Helvete auf der Bühne mit Vorliebe in den Hintern steckt. Auch sonst ist das Chaos ein ständiger Begleiter der Band. Legendär, als ihnen mitten in der Tour das Geld ausgeht und sie für fünf Tage in Hamburg stranden. Ohne Gefährt und ohne die Zusage für einen nächsten Auftritt. Seit diesen Tagen pflegt die Band eine besondere Liebe zum Hamburger Stadtteil St. Pauli.

1996 veröffentlichen Turbonegro ihr drittes Album Ass Cobra, welches die Band zu einem ersten Erfolg und Auftritten der Band in ganz Europa verhilft. Ihr Sound entwickelt sich in die Richtung des Glam Rocks und Punks der 70er-Jahre. Zwei Jahre später veröffentlichen sie ihr vorerst letztes und zeitgleich erfolgreichstes Album Apocalypse Dudes. Enthalten ist der Anheizer Get It On, der in jedem Rockclub der Welt signalisiert „Bier hoch, rumspringen!“ Aufgrund von Helvetes Drogensucht trennen sich Turbonegro 1998, um vier Jahre später wieder zusammenzukommen. Gemeinsam veröffentlichen sie drei weitere Alben, bis sich von Helvete 2010, mittlerweile vollständig clean und Familienvater, erneut aus der Band zurückzieht. Danach machen Turbonegro mit neuem Sänger weiter.

Schweiß

Tubronegro waren mir vor ihrem Anblick auf besagtem Festival ein Begriff. Wie groß und treu ihre Anhängerschaft allerdings ist, war mir unbekannt (s. Unnützes Kneipenwissen). In jedem Fall eine herrliche Erfahrung. Zu sehen, wie sich bei tropischen Temperaturen auf der Bühne Schminke, schwitzendes Körperfett und tropfende Haare vereinen, lässt Guildo Horn wie einen Fachangestellten einer Drogerie erscheinen. Es ist genau das Chaos und die Leidenschaft, die Turbonegro auf der Bühne mit Emil auf der Rückbank verbinden. Ich sollte ihm das Video zeigen. Und danach führen wir ein Vater-Sohn-Gespräch über Geschlechterrollen, Toleranz und Nonkonformität. … AND I LIKE IT!

Unnützes Kneipenwissen I: Turbonegro sind bekannt für ihre zahlreichen treuen Fanclubs, der „Turbojugend“. Gegründet ursprünglich auf St. Pauli, gibt es mittlerweile zahlreiche Clubs auf der ganzen Welt. Gitarrist Euroboy (bürgerlich Knut Schreiner) erklärt das Phänomen mit der Bewunderung Turbonegros für die Band Kiss. Deren weltweiter Fanclub „Kiss Army“ gilt als Vorbild der Turbojugend – inklusive der Jeansjacke samt Rückenpatch als Erkennungszeichen. Jährlich finden in St. Pauli die „Welt-Turbojugend-Tage“ statt, ein Zusammentreffen weltweiter Fanclubs. 2018 bereits zum 14. Mal.

Unnützes Kneipenwissen II: Bei der Wahl des Bandnamens schwanken die Mitglieder zwischen zwei Möglichkeiten: Turbonegro oder Nazipenis. Die Wahl fiel auf Turbonegro, da es mit dem Namen „Nazipenis“ „absolut unmöglich sei, Platten zu verkaufen“. Mit ihrem Engagement gegen Rassismus und Nationalismus stellt die Band früh klar, dass es sich bei dem Wort „Turbonegro“ um kein rassistisches Motiv handelt. Der frühere Sänger Pål Erik Carlin sieht an der Osloer U-Bahn ein Graffiti, bestehend aus den beiden lateinischen Worten „turbo“ (schnell) und „negro“ (schwarz).

 


Jede Woche begleite ich meine Zwillinge Emil und Jakob auf ihrem Weg durch die musikalische Welt. Wo bleiben sie stehen, wo verweilen sie? Wo sehe ich mich, wo laufe ich weg? Jeder Tag voller Spannung und vor allem, nie ohne Musik. Erfahrt hier mehr über die Songs der Sahnehäubchen.