In Bezug auf Musik zeigen sich die Zwillinge derzeit etwas „innovationsmüde“. Ich hoffe, dass dieser Zustand nicht allzu lange anhält. Lieber öffne ich derweil die angestaubte Dachbodenkiste der „Sahnestücke“. Kennt ihr dieses Phänomen? Jemand zerrt ein Lied oder eine Melodie mittels geschickter Medienplatzierung aus der vergessenen Ecke der Musikhistorie und schubst es in grelles Scheinwerferlicht? Falls nicht, dann empfehle ich euch die Netflix-Serie La casa de papel (Haus des Geldes). Um die zwei Staffeln entbrennt aktuell ein regelrechter Hype und katapultiert die spanische Serie zum erfolgreichsten nicht-englischsprachigen Netflix-Produkt. In der Geschichte über eine Geiselnahme in der spanischen Notenbank singen die Protagonisten in verschiedenen Szenen das italienische Volkslied Bella Ciao. Um ihre Rolle als „Robin Hood gegen das kapitalistische System“ zu unterstreichen. Und pflanzen es ins Gehör der weltweiten Popkultur des Jahres 2018.

Der ewige Kampf gegen Autoritäten

Die Melodie zu Bella Ciao stammt aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Der Erzählung nach findet es seinen Ursprung unter italienischen Reispflückerinnen („mondline„) aus der ehemaligen Provinz Terre d’Acqua, nahe Bologna. Diese beklagen die harten Arbeitsbedingungen unter der stechenden Sonne. Sie protestieren, in der ersten dokumentierten Fassung des Liedes von 1906, gegen den Chef („padrone„), der „mit einem Stock in der Hand“ die Arbeit überwacht, das Leben der Frauen „aufzehrt“ und obendrein wenig zahlt. Das Lied endet mit der Prophe­zei­ung, dass die Reisbäuerinnen eines Tages in Freiheit arbeiten.

Zu Beginn der 1940er-Jahre erlangt das Lied, über die italienischen Grenzen hinaus, Berühmtheit. Italienische Widerstandskämpfer gegen den Faschismus adaptieren es und verwenden es in ihren Kampfgesängen. Der umgeschriebene Text ehrt den Freiheitskampf der Partisanen und erhebt deren Beteiligten zu Helden. Wie üblich bei Liedern der Arbeiterbewegung, ist Bella Ciao in zahlreiche Sprachen übersetzt. Dies erklärt die weltweite Bekanntheit des Stücks. Dabei ist die Bedeutung von Bella Ciao in Italien im Gegensatz zum Rest der Welt kontrovers. Die italienische Tageszeitung La Repubblica beklagt, dass, während das Lied weltweit als „Hymne an die Freiheit“ (gegen Populismus, Faschismus, Autoritarismus) gilt, in Italien von offizieller Seite als „Kommunistisches Manifest“ verpönt ist.

Bello Ciao

Im Zuge der neugewonnenen Popularität des Liedes, erscheinen 2018 zahlreiche, und vor allem fragwürdige, Neuinterpretationen von Bella Ciao. DJs und Rapper veröffentlichen Remixe, die weder der ursprünglichen Intention als auch dem musikalischen Anspruch der Melodie entsprechen. In schmerzlicher Erfahrung habe ich beobachtet, dass eine hiesige Amateurfußballmannschaft in der eigenen Vereinskneipe mit einer diskutablen „Bum-Bum“-Version den erreichten Klassenerhalt feiert. Es scheint eine Frage der Zeit, bis selbst die unpolitischsten Fankurven des Sports zu Bella Ciao den Schulterschluss mit der eigenen Mannschaft suchen.

Unnützes Kneipenwissen I: Es gilt als umstritten, ob das Lied der Reispflückerinnen tatsächlich aus dem Jahre 1906 stammt. Es gibt Behauptungen, dass die Ur-Version aus der Feder von Vasco Scansani di Gualtieri stammt und nach dem Zweiten Weltkrieg datiert ist.

Unnützes Kneipenwissen II: Die bekannteste deutsche Version von Bella Ciao stammt vom Liedermacher Hannes Wader, nach dem Text von Horst Berner. Bühne frei!

 


Begegnen dir auch Sahnestücke, die dich erheitern oder staunend zurücklassen? Was hat dich zum Lachen gebracht? Was hat dich beeindruckt? Erzähle es mir, ich freue mich sehr über neue Entdeckungen und Stilblüten. Schreibe mir unter Kontakt einfach mit einem kurzen „Hallo“ und bestenfalls einem Link zu deinem Sahnestück. Gerne halte ich einen Podestplatz für dich frei!