Ich kann nicht immer nur über die „guten, alten Zeiten“ schreiben. Als die Musik besser war und die Geschichten spannender. Vielleicht ist da was dran, aber heute richte ich den Blick auf etwas aus der jüngeren Vergangenheit. Mit der aktuellen deutschen Popmusik ist das so eine Sache. Bereits im Rahmen der Beiträge zu Bilderbuch oder Leoniden habe ich meine Meinung zur deutschen, respektiven, deutschsprachigen Musiklandschaft partiell kundgetan. Zu viel Befindlichkeit, zu wenig Raffinesse. Mehr Charme, weniger Satzbausteine und Austauschbarkeit. Ich suche oft vergeblich. Vom „Land der Dichter und Denker“ zum „Land der Dating-Apps und Wandtattoos“. Wollen wir das? Ich nicht.

Das heutige Radioprogramm ist schwer zu ertragen, es ist mir regelrecht egal. Egal, ob der Interpret gerade Poisel, Giesinger oder Forster heißt und halb-hysterisch (talentierte) Heranwachsende im Abendprogramm privater Fernsehsender anpeitscht. Deswegen ist es heutzutage wichtig zuzuhören. Mal kleinere Konzerte zu besuchen und jungen Musikern seine Aufmerksamkeit zu schenken. Wo es das Bier noch im Glas gibt und das eigene Tanzbein einen spontan überrascht. Ich danke Von Wegen Lisbeth, dass es neben Wandtattoos noch Reclam gibt.

Fünf Freunde

Als sich im Jahr 2006 am Beethoven-Gymnasium in Berlin-Lankwitz die Band Fluchtweg gründet, interessiert das die große weite Welt eher peripher. Berlin ist groß und die Lebensphase des Heranwachsens dauert eine gefühlte Ewigkeit. Der eigene Musikstil bleibt in jener Zeit ein Spiegelbild der Orientierungslosigkeit, aber auch der Neugier. Hardcore-Punk? Aber hallo, „wir können sonst nix“. Gameboy-Casio-Sound? Unbedingt, „ist doch lustig“. Die Band probiert viel aus und setzt seiner Musik und deren Instrumenten keine Grenzen.

Einige Jahre später ist die Schule geschafft, der Bandname mehrfach gewechselt, die Zukunft vor Augen. Diese liegt im Studium verschiedenster Fächer. Der Zusammenhalt der Freunde und die gemeinsame Musik allerdings bleibt. Und sie finden am Ende den richtigen, den einen Bandnamen: Von Wegen Lisbeth. Als Band aus Berlin gibt es Vor- und Nachteile. Zum einen gibt es viele Clubs, in denen eine Band spielen kann, zum anderen gibt es eine große Szene an jungen Musikern. Von Wegen Lisbeth entscheiden sich für den „Ochsenweg“ und spielen, spielen, spielen. Sänger Matthias Rohde sieht diese Beharrlichkeit in der gemeinsamen Energie der fünf Freunde (sic!) begründet:

„Wir haben zusammen gelernt, Musik zu machen, und wären total aufgeschmissen, wenn wir plötzlich in einer anderen Band spielen müssten. Das hier ist die Musik, die wir am liebsten mögen, gespielt von den Jungs, die sich am liebsten mögen.“ – Matthias Rohde, Frankfurter Neue Presse, 2016

2012 veröffentlichen Von Wegen Lisbeth ihre erste EP Promo 2012. Zwei Jahre später erscheint die zweite EP Und Plötzlich Der Lachs. Sie ergreifen die Möglichkeit, mit einer deutschen Band der Stunde, AnnenMayKantereit, auf Tour zu gehen und erspielen sich nach und nach ihr Publikum. 2016 veröffentlichen sie ihr Debütalbum Grande.

„Und was ist sonst noch so passiert?“

Grande ist eine meiner positivsten und erfreulichsten Entdeckungen der letzten Zeit. Die Songs bedienen charmant vertextete Alltagssituationen, besondere Instrumente wie Steel Drums oder Casio-Keyboards liefern die Momente. Der Opener Meine Kneipe lässt den Hörer zurück zur „Hamburger Schule“ gehen und an Die Sterne denken. Chérie packt die Marimba aus und sorgt für einen „flipperesken“ Moment im Refrain. Komm Mal Rüber Bitte thematisiert die Geldgier und den Karrieredruck der Mittzwanziger. In der Mitte des Albums finden sich mit Bitch und Wenn Du Tanzt die beiden Ohrwurm- und Tanzgaranten von Grande. Während bei Bitch der Indierhythmus treibt und die Beinmuskeln zucken lässt, ist die Verzückung über die warmherzige Komplimenteflut in Wenn Du Tanzt allerliebst. Beides große Songs von charmanter Schönheit. Sushi zeigt dem Social Media-Wahn den Mittelfinger, während in Becks Ice 80er-Jahre-Casio-Sounds erfrischen.

Alles in allem ist Grande eine kurzweilige, liebevolle und abwechslungsreiche Stilblüte deutscher Indie-Musik. Dem Quintett aus Berlin ist die Spielfreude anzumerken, die sich durch ihre jahrelange Freundschaft und Bandgeschichte zieht. Von Wegen Lisbeth kommen nicht als abziehbares Wandtattoo daher, sondern vermitteln authentische Freude und Gelassenheit. Ohne Pathos, ohne Phrasen. Ich bin untröstlich, die Band auf ihren vergangenen Konzerten in meiner Heimatstadt Trier verpasst zu haben. Gerade solche Konzerte verdienen unsere lokale Unterstützung. Mit dem Bier in der Hand, einem Auge auf dem provisorischen Merch-Stand und Ohr und Herz bei der Bühne. Es ist Von Wegen Lisbeth von Herzen zu gönnen, ihren Weg weiter zu gehen. Bitte hört sie euch an!

Unnützes Kneipenwissen I: Die Band gründete sich 2006 in einer Freistunde, als der Sportunterricht wegen Krankheit des Lehrers ausfiel.

Unnützes Kneipenwissen II: 2017 erhält Von Wegen Lisbeth den Deutschen Musikautorenpreis.

… und ganz gelassen …

Unnützes Kneipenwissen III: Einige Instrumente, wie die Marimba, die Steel Drum oder alte Glockenspiele, ziehen Von Wegen Lisbeth aus dem Sperrmüll der Deutschen Oper. Tüchtig, tüchtig.

 

Anspieltipps: Bitch, Wenn Du Tanzt, Meine Kneipe, Sushi

Höre ich dann am liebsten: auf dem Weg zum See

 


Wenn euch die Sahneplatte gefällt, schaut doch in der Plattenkiste vorbei. Da gibt es noch weitere hervorragende Alben und spannende Geschichten.



 

Von Wegen Lisbeth – Grande

Genre:Pop
Stil:Indie Pop, Indie Rock
Jahr:2016
Anzahl Titel:14
Laufzeit:51:01

Tracklist

Meine Kneipe3:04
Chérie2:58
Komm Mal Rüber Bitte4:06
Drüben Bei Penny4:34
Bitch3:47
Wenn Du Tanzt3:50
Der Untergang Des Abendlandes4:08
Lisa3:24
Sushi3:11
Bärwaldpark4:25
Milchschaum4:24
Becks Ice3:45
Unterm Schrank3:04
Freigetränke2:21