Mit 15 gibt es nur ein Tempo: Vollgas! In vielen Aspekten des Lebens. Außer der Schule. Da steht der Fuß gerne länger auf der Bremse. Bloß nicht stressen. Musikalisch war ich seinerzeit auf Punk. Schnell, hart, einfach. Immer vorwärts. Eigentlich schade. So habe ich es seinerzeit versäumt, eine Platte zu würdigen, die ein neues Musikgenre aus der englischen Stadt Bristol in die Welt trägt. Portishead nehmen Elemente des Hip-Hop und Electronica und vermischen es zu sanften Tönen großstädtischer Orientierungslosigkeit. Trip Hop. Nebenbei ist ihr Debütalbum Dummy die vertonte Laszivität. Sex. Verlangen. Leidenschaft. Die Melodien und Beats dafür liefern Portishead. Was hätte ich mit 15 damit anfangen sollen? Druck vom Kessel. Ein neues Gesicht wäre hilfreich gewesen.
Transistor
Beth Gibbons ist Mitte zwanzig, als sie Geoff Barrow in Bristol kennenlernt. Barrow, gerade die Schule verlassen, hat mit 20 Erfahrungen als Musiker vorzuweisen. Egal ob Schlagzeug in einer lokalen Rockband oder DJ in einer Hip-Hop-Formation, Barrow denkt nicht in Grenzen. 1991 darf er einer lokalen Band im Studio bei der Aufnahme ihres Debütalbums assistieren. Blue Lines von Massive Attack ist musikalisch neu und dem gängigen Zeitgeist weit voraus. Downbeats verschmelzen mit eingängigen Bassläufen und glockenklarem Gesang. Mitten in Bristol, einem weißen Fleck auf der musikalischen Landkarte des Vereinten Königreichs, entsteht die Musik für ein neues Jahrzehnt. Und Geoff Barrow ist mittendrin. In den Studiopausen von Massive Attack ist es ihm gestattet, sich selbst ans Mischpult zu setzen und an eigenen Sounds zu probieren.
Was ihm fehlt ist eine Stimme. Die klare, sanfte Stimme einer Frau, die es schafft, die Melodien zu tragen ohne ihnen mit zu viel Dominanz die Luft zu nehmen. An diesem Punkt trifft er auf Beth Gibbons, die extra aus dem provinziellen Bath nach Bristol zieht, um ihrer Gesangskarriere eine Richtung zu geben. Beide arbeiten gemeinsam an Songs und verfeinern ihre Rollen. Barrows als Tüftler, Gibbons als Transistor. Sie nennen sich Portishead. Um einen Plattenvertrag zu bekommen, greifen Sie zu einem ungewöhnlichen Mittel. Neben einer ersten, selbstproduzierten EP, drehen Portishead einen Kurzfilm. To Kill A Dead Man ist ein elfminütiger Spionagefilm mit der Band in den Hauptrollen. Und vor allem, mit deren Musik als Untermalung. Die Taktik funktioniert. Portishead unterschreiben 1994 einen Plattenvertrag bei Go! Beat Records und veröffentlichen im August ihr Debütalbum Dummy.
“Give me a reason to love you”
Dank Massive Attack ist der neue Sound aus Bristol in die weite Welt getragen. Mit Erfolg. Trip Hop gilt zu Beginn der 1990er-Jahre als Genre der Stunde. Barrow, Gibbons und der mittlerweile zur Band hinzugestoßene Jazzgitarrist Adrian Utley verfeinern den Sound des Trip Hop und geben ihm eine eigene Note. Dummy schafft es aus dem Stand auf Platz #2 der britischen Albumcharts und erwärmt die Herzen der Kritiker. Portishead stecken mitten in ihren Zwanzigern. Ihre Songs auf Dummy strahlen eine solche abgeklärte Ruhe aus, dass das Album Debüt und Lebenswerk zugleich zu sein scheint. Beth Gibbons singt die Songs mit einer Leidenschaft und einem Gefühl, dass es beim ersten Hören kalt über den Rücken schaudert.
Mysterons steht gleich zu Beginn lässig an der Straßenecke und beobachtet jede Regung des Hörers auf Entfernung. Der Downbeat greift zu und lässt bis zum Ende der Platte nicht mehr los. Sour Times zieht dich über die Straße und nimmt dich an die Hand, bis du dich zu It Could Be Sweet mit einem Cocktail in einem Strandstuhl wiederfindest. Numb nimmt musikalisch Bezug auf die Nachbarn von Massive Attack und schlägt mittels Beth Gibbons Gesang eine Brücke. Biscuit führt direkt ins Schlafzimmer, wo am Ende von Dummy die absolute Königin wartet. Glory Box lässt den Atem verflachen, die Augen aufreißen und den Hörer endgültig in die totale Hingabe verfallen. Dieser Song ist das Herz, das Gefühl und die Gänsehaut von Dummy. Ihn ans Ende des Albums zu setzen ist wahnsinnig und genial zugleich. Verliebt und erregt lässt Dummy zurück.
Habt Spaß!
Dummy ist Sex. Punkt. Es gibt für mich kein Album mit einer vergleichbaren gefühlsbetonten Intensität. Sind die Beats und Rhythmen eher cool und distanziert, reißt die Stimme von Beth Gibbons jeden Sicherheitsabstand ein und dem Hörer alle Klamotten vom Leib. Was sollte ich mit 15 mit diesem Album? Ich hätte gar nicht gewusst, was ich damit anfangen soll. Um mal die Parallelen zur pubertierenden Sexualität zu ziehen. Wer sich für einen leidenschaftlichen, gefühlsbetonten, in manchen Situationen gar für einen lasziven Menschen hält, dem seien die Töne von Dummy wärmstens empfohlen. Und dankt mir nicht für den Spaß. Es ist mir eine Freude, Sahneplatten für alle Lebenslagen zu präsentieren!
Unnützes Kneipenwissen I: Portishead ist der Name einer kleinen Stadt, acht Meilen westlich von Bristol, in der Geoff Barrow aufwuchs. Er beteuert stets, wie sehr er diesen Ort hasst.
Unnützes Kneipenwissen II: Aufgrund des großen Erfolges von Dummy, verweigert Beth Gibbons sämtliche Interview- und Pressetermine. Sie ist dem plötzlichen Medienrummel nicht gewachsen.
… lösch das Licht …
Unnützes Kneipenwissen III: Der Begriff “Glory Box” stammt aus Australien und bezeichnet ein Möbelstück, in dem Frauen Kleidung und andere Utensilien während der Vorbereitung ihrer Hochzeit aufbewahren.
Anspieltipps: Glory Box, Sour Times, Biscuit, Numb
Höre ich dann am liebsten: … na kommt …
Wenn euch die Sahneplatte gefällt, schaut doch in der Plattenkiste vorbei. Da gibt es noch ganz viele weitere hervorragende Alben.
Portishead – Dummy
Genre: | Pop |
Stil: | Trip-Hop |
Jahr: | 1994 |
Anzahl Titel: | 11 |
Laufzeit: | 49:17 |
Tracklist
Mysterons | 5:02 |
Sour Times | 4:11 |
Strangers | 3:55 |
It Could Be Sweet | 4:16 |
Wandering Star | 4:51 |
It's a Fire | 3:48 |
Numb | 3:54 |
Roads | 5:02 |
Pedestal | 3:39 |
Biscuit | 5:01 |
Glory Box | 5.06 |
5. Februar 2018 um 22:21 Uhr
…und so zeigt sich mal wieder, daß die irrationale Angst vor Neuem ein echtes Hindernis darstellt beim Erleben desselben. Ich hatte von Portishead gehört, aber das Cover gefiel mir nicht (ich bin sehr stark visuell orientiert), und ich hatte ein paar experimentelle Sachen gekauft (Laurie Anderson, Lounge Lizards). Ich wusste nicht was davon zu halten war, den Sound (Triphop) erkannte ich später in “Underwater Love”, das ich toll fand. Aber die nächste Welle kam auch schon wieder auf die Musikwelt zu (Grunge) und das entsprach meiner dominanten Mentalität mehr, weil es dem Rock verwandter ist. Außerdem ist die “Angst” darin greifbarer als im eher diffusen und subversiven Gesang von Beth Gibbons. Will sagen, für einen emotionalen Grobmotoriker vielleicht leichter zu verstehen.
Jetzt aber, mit 20++ Jahren Abstand finde ich zuerst Glory Box und dann Sour Times echt schön und eingängig (und sinnlich). Numb ist nicht ganz mein Fall, aber auch gut.
5. Februar 2018 um 22:45 Uhr
Wow Alex, starker Einblick… Ich weiß was du meinst… Diese dominante Mentalität war auch eher meins, habe Portishead auch erst Jahre später so richtig lieben gelernt… Emotionale Reife und so… 😊😉
10. Februar 2018 um 10:32 Uhr
Oh ja, Portishead. Fantastisches Album, ebenso großartige Live Band. Kaum zu fassen, dass ihr letztes, gleichfalls geniales Album nun auch schon 10 Jahre alt wird 👍
10. Februar 2018 um 13:28 Uhr
3 Alben in jetzt 24 Jahren… Definitiv zu wenig 😊
10. Februar 2018 um 13:53 Uhr
Das stimmt 😀
10. März 2018 um 1:24 Uhr
Tolle Themen hier. Grade drauf gestoßen.
Bin ein paar Takte älter und habe Triphop deshalb “von der anderen Alters-Seite her” fast verpasst. Triphop – der Name klingt wie Hiphop und das is nix. In den 90ern hab ich Nachholkauferei betrieben: Alles was ich durch die Mauerjahre verpasst hatte oder mir nicht wichtig genug war, um auf dem DDR-Flohmarkt 120 Ostmark zu bezahlen, musste jetzt ran: Vorwiegend nachgeholte 70er Phänomene und die bösen Sachen der NDW. 90er Stile Rap und Techno — äxxx. Zu alt dafür. Dann bei MTV eines Tages ein volles Konzert mit einem seltsamen Sound: Portished “live im Roseland N.Y.C.” (mit Orchester) Wow. Die CD musste dann auch noch sein – und ist heute neben ein bissl mehr Faithless-Kram eine der wenigen 90er Jahre Veröffentlichungen in der Sammlung.
Aber es war dann auch schnell vorbei mit Triphop: Auf Nachschlagsuche fand ich die anderen Portishedplatten zu ähnlich und Masive attack zu langweilig. So bliebs bei der einen.
10. März 2018 um 14:20 Uhr
Lieber Bludgeon, herzlich willkommen in meiner kleinen Stube. Fühle dich wohl und schau dich um… 😉. Auch vielen Dank für deine Geschichte, sehr beeindruckend. Schau doch gerne öfter vorbei, ich freue mich auf dich!😊