Jeder, der sich mit Leidenschaft der Musik widmet, kennt diesen Moment. Ein Moment, in dem sich Hörgewohnheiten aufbrechen. Bezogen auf Musikalben, definiert die Historie der zeitgenössischen Populärmusik mehrere solcher Momente. “Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band” von den Beatles, “Pet Sounds” von den Beach Boys oder “The Dark Side Of The Moon” von Pink Floyd. Der persönliche “Sgt. Pepper-Moment”, in dem das Hören eines Musikalbums neue Horizonte und Sichtweisen eröffnet, ist ein geflügeltes Wort. Mit 18 Jahren war ich geprägt von Britpop, Punk und Synthie-Pop. Radiohead veröffentlichen im Juni 1997 ihr drittes Album OK Computer. Von da an, war für viele Menschen, mich eingeschlossen, alles anders.
Alles anders
Dank “Creep” von ihrem Debütalbum Pablo Honey waren mir Radiohead selbstverständlich ein Begriff. Ein Jahrhundertsong. Wie gemalt für Teenager mit Stimmungsschwankungen. Das Nachfolgealbum The Bends von 1995 war mir persönlich etwas zu düster und zu persönlich. Ich habe es erst in den letzten Jahren schätzen gelernt. Radiohead waren in jenen Jahren auf der Überholspur. In Großbritannien bereits mit einigen Erfolgen, startete die Band aus Abingdon, Oxfordshire auch auf dem europäischen Kontinent und in Amerika durch. Kritiker und Fans konnten das dritte Album kaum erwarten, ein zweites The Bends wurde prognostiziert:
“Alle um uns herum sagten: Nehmt “The Bends, Part 2″ auf – und ihr werdet die größte Band des Planeten. Wir haben nie offen darüber gesprochen. Aber allen war klar, dass wir gerade deshalb genau das Gegenteil machen werden” – Ed O’Brien, Gitarrist
Bereits während der Tour zu The Bends im Herbst 1995 nehmen Radiohead den ersten neuen Song auf – Lucky. Er erscheint auf einem Charity-Sampler von Brian Eno und gibt die neue Richtung vor. Thom Yorke bekräftigt zwei Dinge auf der neuen Platte anders zu machen als auf The Bends: er möchte sich kein zweites Mal persönlich so öffnen wollen, wie in den Songs des Vorgängers. Und, da ist sich die Band einig, die neuen Songs nicht in einer sterilen Studioumgebung aufzunehmen.
Kommerzieller Selbstmord
So mieten sie sich im Sommer 1996 in St. Catherine’s Court in der Nähe von Bath ein. Ein schlossähnliches Anwesen aus Granitstein mit einer Vielzahl von Räumen mit dichter Atmosphäre. Spukgeschichten inklusive. Für einige Gesangsspuren steht eine enge Kellertreppe bereit. Um die Aufnahmen so organisch wie möglich zu halten, setzen Radiohead bewusst auf “First Takes”. Das Aufnehmen von Tonspuren ohne Effekte und Bearbeitung. Das Ganze hat einen Grund: je länger die Band an einem Song feilt, umso mehr beginnt sie nachzudenken und zu zweifeln. Also machen Radiohead aus der Not eine Tugend.
Thom Yorke befasst sich in seinen Texten nicht mehr mit seinen eigenen Dämonen, er thematisiert die Degenerierung der Gesellschaft. Der Albumtitel sowie das gesprochene Wort einer Macintosh “SimpleText-Applikation” im Track “Fitter Happier” als Sinnbild. Die Collage auf dem Albumcover symbolisiert mit ihren blassblau-weißen Grundtönen das Verbleichen von Knochen. Hymnische Musik und zerfranste Darstellung der visuellen Albumbestandteile werden zu einer Einheit.
Die Band zeigt sich im Frühjahr 1997 zufrieden mit dem Ergebnis, Plattenfirmen und Vertragspartner der Band sind entsetzt. Sie bezeichnen das Album als kommerziellen Selbstmord. “Paranoid Android” mit seinen radiountauglichen sechseinhalb Minuten ohne klassischen Refrain wird auf Wunsch von Radiohead die erste Singleauskopplung. Ungeachtet der vernichtenden Replik der Vertriebskanäle ist die Kritik in Form von Magazinen und Tageszeitungen begeistert. Kurz nach Veröffentlichung schreiben sie vom “kommenden Meilenstein der britischen Rockmusik”. Aus dem verglühenden Britpop steigt ein neuer, visionärer Stern empor. Die Fans ziehen ebenfalls mit und verehren das Album binnen kürzester Zeit.
Paradigmenwechsel
In den darauffolgenden Jahren kommt keine Bestenliste ohne OK Computer aus. Das Album verkauft sich 5,5 Millionen mal und gewinnt 1998 einen Grammy. Das Subgenre des “Art Rock” galt nach dem Album als begraben. Niemand glaubte an eine Steigerung der Harmonien und des Anspruchs ans Songwriting. Die Tour zum Album wird für Radiohead zur Belastungsprobe. Sie begründet die Verweigerungshaltung, mit der die Band in den weiteren Jahren kommerzieller Musik und klassischen Vertriebswegen begegnen:
“Ich wusste, dass die Tour zu lang ist und uns kaputt machen kann. Das sagte ich auch nach etwa sechs Monaten als erster. Weitere sechs Monate später sagten es alle. Und noch einmal sechs Monate später sprach von uns überhaupt keiner mehr.” – Thom Yorke, Sänger
OK Computer ist für mich ein Meilenstein. Musikalisch wie auch persönlich. Arrangements wie in “Karma Police“, “No Surprises” oder “Let Down” kannte ich bis dato nicht. Vor allem hätte ich niemals gedacht, dass es mir gefällt. Über allem steht “Paranoid Android” mit seinem wahnsinnig treffenden Musikvideo. Die Wechsel von Wut, Melancholie und Hoffnung sind atemberaubend und lassen vergessen, dass es keinen klassischen Refrain gibt.
Einsam am Einlass
2001 auf “Rock am Ring” performten Radiohead mit ihrem Nachfolgealbum “Kid A” als Headliner am Samstagabend. Ich hatte lediglich eine Eintrittskarte fürs Camping (gab’s damals noch) und kam demnach nicht aufs Festivalgelände. Also stellte ich mich ganz nah an die Absperrung am Einlass um zumindest Tonfetzen von No Surprises oder Karma Police aufzunehmen. Ganz schön schwer, wenn hinter dir Privatparties mit voll aufgedrehten Verstärkern wabern. Und sich Limp Bizkit oder die H-Blockxx in den Gehörgang drängeln.
Nach OK Computer wollten alle britischen Rock- und Indiebands Kunst machen. Was bleibt, ist die Inspiration für viele Musikschaffende. Ein Album als Wendepunkt. Bitte beschafft es euch, hört es an und lasst euch darauf ein!
Unnützes Kneipenwissen I: No Surprises ist komplett als First Take ohne Overdubs auf dem Album platziert. Ein Beweis für die einzigartige Qualität der Band.
Unnützes Kneipenwissen II: Radiohead war die erste Band weltweit, die eine eigene Website besaß.
….wer hätte es gedacht…
Unnützes Kneipenwissen III: Jonny Greenwood (Gitarre) und Phil Selway (Schlagzeug) sind Mitglieder der Band, die am Weihnachtsball (Yule Ball) in “Harry Potter und der Feuerkelch” spielen.
Anspieltipps: Paranoid Android, Karma Police, No Surprises, Electioneering
Höre ich dann am liebsten: mit dem Kopf unter kaltem, klaren Wasser
Radiohead – OK Computer
Genre: | Rock |
Stil: | Alternative Rock, Art Rock |
Jahr: | 1997 |
Anzahl Titel: | 12 |
Laufzeit: | 53:00 |
Tracklist
Airbag | 4:44 |
Paranoid Android | 6:22 |
Subterranean Homesick Alien | 4:27 |
Exit Music (For A Film) | 4:24 |
Let Down | 4:58 |
Karma Police | 4:21 |
Fitter Happier | 1:57 |
Electioneering | 3:50 |
Climbing Up The Walls | 4:44 |
No Surprises | 3:48 |
Lucky | 4:19 |
The Tourist | 5:24 |
18. September 2017 um 8:25 Uhr
Ich muss zugeben, von “Radiohead” wirklich nur “Creep” zu kennen, “Creep” allerdings kann man nicht laut und häufig genug preisen, auch ohne Teenager mit Stimmungsschwankungen zu sein! 😉
18. September 2017 um 9:23 Uhr
Dann hopp hopp….vielleicht zuerst von Pablo Honey (mit Creep) zu The Bends zu OK Computer….:)
18. September 2017 um 8:48 Uhr
Awwwww… Das am Montagmorgen. Nostalgie, Gänsepelle… schön! Das kann ja nur noch ein guter Tag werden. 😉
18. September 2017 um 9:24 Uhr
Awwww…♥
Ich bemühe mich den Montagmorgen ein kleines bisschen erträglicher zu gestalten…:)
18. September 2017 um 9:36 Uhr
Sehr gut! 🙂
18. September 2017 um 9:24 Uhr
Ich vermisse 1997 so sehr.
18. September 2017 um 9:25 Uhr
Wer nicht Gesa?
“Cool, brauche in Englisch nur noch 9 Punkte zum Abi”…”Wann hast du Freistunde?”…”Klar, ich fahr heute Abend zur Party von XY”…
Hach…:)
18. September 2017 um 18:09 Uhr
Naja, ich war erst 15, da war das Leben schon noch anders. Aber die Musik fehlt mir so.
18. September 2017 um 11:28 Uhr
Sehr schön. Ich sehe dich förmlich am Einlass stehen 😀
Höre gerade, dass wir das Vinyl auch zu Hause stehen haben. Wie hätte ich anderes denken können 😉
LG,
Sandra
18. September 2017 um 11:45 Uhr
Hey Sandra,
schön, dass du vorbei schaust.
Gott sei Dank bin ich doch irgendwann gegangen…:D
Sehr schön, dann lege es doch heute nochmal auf…:)
LG Torsten
27. September 2017 um 9:15 Uhr
Habe ich direkt getan, allerdings digital, da ich im Urlaub war 😉
18. September 2017 um 11:31 Uhr
Mein Kommentar wurde gerade verschluckt, ich versuche es nochmal.
Sehr schön – ich sehe dich förmlich am Einlass stehen 😀
Und ich höre gerade, dass das Vinyl “natürlich” auch bei uns zu Hause steht.
LG,
Sandra
24. Oktober 2017 um 0:17 Uhr
Unnützes Kneipenwissen IV:
Zum Cover von OKC (ich hoffe, ich darf den link bringen):
https://www.stereogum.com/1940181/radioheads-ok-computer-album-cover-is-a-highway-in-hartford/news/
OKC, die Platte der Platten. Ach ja…
24. Oktober 2017 um 0:18 Uhr
Wow! Vielen Dank! 😁… Schau gerne öfter vorbei! LG Torsten
24. Oktober 2017 um 0:21 Uhr
Ich hatte eben die Kassette von OKNOTOK im Hintergrund laufen und dachte, schaust mal was es neues zu den Radioköpfen gibt. Wer weiß, die Jungs sind spätestens seit KID A immer für Überraschungen gut. Keine andere Band, die ich so verfolgt habe (im Positiven). Schöne Zusammenfassung, auf alle Fälle.
24. Oktober 2017 um 0:23 Uhr
Interessant, wie wir uns kreuzen… Aber stimmt, immerhin wieder überraschend, wenn es zu Veröffentlichungen kommt… 😉