In meiner Jugend habe ich einige Sportarten ausprobiert. Mal mehr, mal weniger erfolgreich. Nichts war so hart, wie eine Sportart, die einem alles abverlangt: Ausdauer, Durchsetzungs- und Leidensfähigkeit. Richtig, ich spreche von Oberstufenpartys. Wochenlange Vorbereitung für den perfekten Abend. Klamotte, Style, Bewusstseinszustand. Nichts wird dem Zufall überlassen. Mit 16 war es das erste Mal soweit, der Zutritt offiziell erlaubt. Schulaula, notdürftig geschmückt, schummriges Licht. Es riecht nach dem typischen Linoleumboden, wie es ihn in zahlreichen Schulen, Schwimmbädern oder Altenheimen der Republik gibt. Der Abiturjahrgang hat eine Nebelmaschine besorgt. Dichte Schwaden über der Tanzfläche. Plötzlich ein Song. Die gesamte Oberstufe rottet sich innerhalb der Schwaden zusammen. Und mein 16-jähriges Ich springt mitten rein. Die nächsten drei Minuten sind Kampf gegen eine ungleiche Gewichtsklasse und den Zustand, aus dem Nebel zu fliegen. Nie wieder war David gegen Goliath so schön. „Just a sucker with no Self Esteem“. The Offspring.

The year that punk broke … again

Anfang 1994 sitzt Brett Gurewitz in seinem Arbeitszimmer und hört Demotapes. Der Gitarrist von Bad Religion gibt kalifornischen Punkbands auf seinem kleinen Independent-Label Epitaph ein Zuhause. Manche sind bekannter als andere (NOFX, Rancid, Pennywise), allerdings fernab davon, Erfolg im Mainstream oder Radio zu erzielen. Eine Geschichte erzählt, dass seine Frau an jenem Tag bemerkt, dass Gurewitz an einem Punkt immer wieder zwei Songs hört. Nacheinander. Repeat. Sie sieht nach und findet ihren Mann konsterniert, aber aufgelöst vor. Er sagt nicht viel, schaut sie an und flüstert, „Schatz, wir werden reich!“. Einige Monate später ist das Verhältnis von Punkmusik zum Mainstream auf den Kopf gestellt. The year that punk broke … again.

Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre bildet sich im Schatten von Metal und Hardcore eine neue Punkszene in Kalifornien. Während weiter nördlich der Grunge entsteht und als erstes den Weg zu einem breiten Publikum findet, werden in kalifornischen Garagen und kleinen Clubs Akkorde geschrammelt. Mal politisch, mal aus Spaß. Die Bands fristen ein Nischendasein und haben nicht die Absicht, die Werte der Punkmusik zu missachten. Kein Ausverkauf, keine Abhängigkeit. Die Fanszene ist treu und gibt den Musikern ein Gefühl von (regionaler) Bedeutsamkeit.

Goldgräberstimmung

The Offspring, um Sänger Dexter Holland, gründen sich 1984 unter dem Namen Manic Subsidals. Erst zwei Jahre später geben sie sich ihren bis heute bekannten Bandnamen. 1988 erscheint ihr erstes, selbstbetiteltes, Album, ohne große Beachtung zu gewinnen. Dafür überzeugen sie den Produzenten Thom Wilson, der mit Vorbildern der Band und Größen der Szene (Social Distortion, Dead Kennedys) zusammenarbeitete. Dieser verschafft der Band, dank der 1991 erschienen EP Baghdad einen Plattenvertrag mit dem kleinen Independent-Label Epitaph. The Offspring veröffentlichen ein Jahr später das zweite Album Ignition, welches die Erwartungen von Labelchef Gurewitz übertrifft. Immerhin werden 15.000 Platten verkauft. Für Epitaph ein zufriedenstellendes Ergebnis und ein Grund, die Band mit etablierten Kollegen, wie NOFX und Pennywise, auf Tour zu schicken.

Anderthalb Jahre später, im Januar 1994, gehen The Offspring ins Studio um neue Songs aufzunehmen. Mangels Budget, belegt die Band nicht gebuchte Zeitschienen, um kostengünstig ihre neuen Songs einzuspielen. Die Aufnahmen dauern zwei Wochen, die Produktionskosten betragen 20.000 US-Dollar. Sie schicken Gurewitz ein Demotape mit den, aus ihrer Sicht, stärksten Songs: Come Out And Play und Self Esteem. Im Zuge des Grunge, der aus dem Nichts erschien, ist Gurewitz sensibilisiert für das, was in der Musikwelt der 90er-Jahre möglich ist. Die beiden ihm vorliegenden Songs bieten ihm einzigartiges und ungewöhnliches. Smash erscheint im April 1994. Es herrscht Goldgräberstimmung im Westen.

“You stupid dumb-shit god-damn motherfucker!”

Zeitgleich mit The Offspring aus Orange County, werfen Green Day aus Berkeley ihr Album Dookie auf den Markt. Um sich direkt im Anschluss auf eine Support-Tour nach Europa zu verabschieden. Wenige Wochen später ist die Welt für beide Bands sowie den „Cali-Punk“ eine andere. Die Videos laufen auf MTV, die Alben verkaufen sich millionenfach und große Plattenlabels reißen sich um kalifornische Punkbands. Gurewitz hat Recht behalten. The Offspring und Green Day werden von der öffentlichen Aufmerksamkeit weggespült. Andere Bands bleiben ihren Werten und ihrer Verweigerungshaltung treu und zeigen der hyperventilierenden Musikindustrie (berechtigt) den Mittelfinger. Die Mitglieder beider Bands werden Millionäre und ein Spiegelbild der sich schnell drehenden Musikindustrie. Davon zehren sie noch heute.

Dabei ist Smash ein Meilenstein. Und Self Esteem die Hymne einer ganzen Jugend. Der Song vereinte Mädchen wie Jungs mit ganz verschiedenen Musikpräferenzen. Keine Party ohne das gemeinsame Einstimmen, wenn die ersten Töne erklingen. Ein Lied über eine geschundene Männerseele, gefangen im Matriarchat. Im gemeinsamen Chant vereint. Auch die anderen Songs strotzen vor Kraft. Bad Habit, Nitro, das wunderbar sehnsüchtige Gotta Get Away oder die partytauglichen It’ll Be A Long Time und What Happened To You?. Was Smash so besonders gegenüber anderen Alben kalifornischer Punkbands macht sind die hart angeschlagenen Gitarren. Diese fügen einigen Songs Facetten aus Metal und Hardcore hinzu. Das ganze Album scheppert und kratzt, es fehlt durchgängig die Politur einer hochwertigen Produktion. Eben ein Schnellschuss, eine Produktion ohne Mittel. Smash ist mit über 16 Millionen Platten, bis heute das meistverkaufte Album eines Independent-Label. Nach fast 25 Jahren.

Class of ’94

Die kalifornische „Punkclass of ’94“ ist für mich etwas Besonderes. Für meine damalige Entwicklung eine Faust aufs Auge. Es gibt aus der Zeit weitere Sahneplatten, die zu einem späteren Zeitpunkt Erwähnung finden. Cali-Punk und Melodycore waren für mich ein Ventil. Mehr als drei Akkorde brauchte es nicht. Dabei waren mir die Aussagen egal, Spaß musste es machen. The Offspring haben für ihren „Ausverkauf“ mit Smash oft auf die Fresse bekommen. Den Erfolg konnten sie nicht wiederholen, auch wenn es in den Folgejahren kleinere Ausreißer nach oben gab (Pretty Fly). Dafür ist die From-Zero-To-Hero-Geschichte mit ihrer Straßenattitüde zu einzigartig. Zwei, drei gute Ideen, spielen, aufnehmen, fertig. Immer wenn ich die Platte höre, ist sofort das Gefühl von damals zurück. Neunte Klasse, Nebelmaschine, David gegen Goliath, Linoleum. Und das Lächeln, ohne irgendeine Absicht, zufrieden nach Hause zu gehen. Oder humpeln.

Unnützes Kneipenwissen I: Killboy Powerhead ist ein Cover der befreundeten Punkband The Dijits.

Unnützes Kneipenwissen II: Dexter Holland war im Abschlussjahr seiner High School Jahrgangsbester im Fach Mathematik. Er begann ein Studium der Molekularbiologie, setze nach dem Erfolg von Smash seinen Fokus aber auf die Musik.

… und …

Unnützes Kneipenwissen III: Come Out And Play bestand zu anfangs aus losen Einzelstücken (Riff, Refrain, Strophe), die nicht recht in eine Songstruktur passten. Während einer Studie zum Verhalten von Bakterien murmelte Dexter Holland während des Versuchs am Mikroskop den Satz “I gotta keep ’em seperated”. Das war das fehlende Bindeglied zwischen den einzelnen Bausteinen des Songs.

 

Anspieltipps: Self Esteem, Come Out And Play, Gotta Get Away, Genocide, What Happened To You, Bad Habit

 


Wenn euch die Sahneplatte gefällt, schaut doch in der Plattenkiste vorbei. Da gibt es noch weitere hervorragende Alben und spannende Geschichten.



 

The Offspring – Smash

Genre:Rock
Stil:Punk Rock
Jahr:1994
Anzahl Titel:14
Laufzeit:46:38

Tracklist

Time to Relax0:25
Nitro (Youth Energy)2:27
Bad Habit3:43
Gotta Get Away3:52
Genocide 3:33
Something to Believe In3:17
Come Out and Play (Keep ’Em Seperated)3:17
Self Esteem4:17
It’ll Be a Long Time2:43
Killboy Powerhead2:02
What Happened to You?2:12
So Alone1:17
Not the One2:55
Smash / Come Out and Play (Acoustic Reprise)10:39