In meiner kleinen, persönlichen Vorstellung, habe ich erwähnt, dass ich Musik nur in einem Zustand der Bewegung so richtig genießen kann. Ruhe ist nichts für mich. Ich kann nicht einfach dasitzen (oder -liegen) und Musik ohne Regung aufnehmen. Aber heute schreibe ich über ein Album, dass ich beim allerersten Hören liegend auf der Couch genoss. Vollkommen ruhig. Vom ersten bis zum letzten Ton. Es ist ein Album, dass in seiner Intention Gegensätze thematisiert. Und damit passt es, zur Zeit seiner Veröffentlichung, wie die Faust aufs Auge in mein persönliches Weltbild. 2005 wurde aus Spaß Ernst. In vielerlei Hinsicht. Im Studium, in der Beziehung, im Lebensplan. Eine permanente Gefühlswelt zwischen Zweifel (“Was willst du eigentlich mal machen?”) und Zuversicht (“Wird schon werden”). Die Leichtigkeit verflog. Der Kopf bestimmte die Gedanken. Dazu spielten Dredg die Musik. Eine Band, die ich bis dato nicht kannte. Und die in gut fünfzig Minuten meine Gefühlswelt nach außen transportierte. Catch Without Arms.
Anspruch
1993 finden an der High School in Los Gatos, Kalifornien vier Jungs zueinander, um gemeinsam Musik zu spielen. Gavin Hayes (Gesang), Mark Engels (Gitarre), Drew Roulette (Bass) und Dino Campanella (Schlagzeug, Piano) stehen auf Hardcore und Metal. Weswegen in jenen Anfangstagen der Sound von Sepultura oder Pantera dominiert. Gegen Ende ihrer Schullaufbahn trauen sich die Vier an die Aufnahmen erster Demos, von denen die Orph EP 1997 einen ersten kleinen Wendepunkt darstellt. Dredg ändern ihren Stil in Richtung Alternative und Progressive Rock und machen sich einen Namen in der Bay Area rund um San Francisco. Trotz ihrs jungen Alters ist die Band bekannt für ihren Sinn für Kunst. Ihr Anspruch ist es, nicht nur den Ausdruck durch Musik zu suchen, sondern zusätzlich deren Verknüpfung mit Text und Artwork. Tiefgang statt Belanglosigkeit.
Dredg unterstreichen ihren Anspruch. Ihre erste, selbstproduzierte Langspielplatte machen sie gleich zu einem Konzeptalbum. Über einen Mann, der die Welt bereist um seine moralische Krankheiten zu überwinden. Den Titel, Leitmotif, übernehmen Dredg aus dem deutschen Sprachgebrauch und der Intention von Richard Wagner, der mit seinen Opern als Paradebeispiel für die Leitmotiv-Technik gilt. Mit dem ersten Album im Gepäck erweitern Dredg ihren Bekanntheitsgrad und spielen Konzerte in ganz Kalifornien. 2001 unterzeichnen sie einen Plattenvertrag beim Majorlabel Interscope Records, welches sogleich Leitmotif wiederveröffentlicht. Und es somit Dredg zu ersten nationalen Supportshows verhilft. Motiviert macht sich die Band an die Aufnahmen zu ihrem zweiten Album El Cielo. 2002 veröffentlicht, ist es erneut ein Konzeptalbum, welches das Phänomen der Klarträume thematisiert. Als Inspiration dienen Erfahrungen und ein Gemälde von Salvador Dalí (“Traum, verursacht durch den Flug einer Biene um einen Granatapfel, eine Sekunde vor dem Aufwachen“).
Gegensätze
Um das Artwork rund um die Platte kümmert sich die Band selbst. Erste Musikvideos entstehen, allerdings eher zum Ausdruck der eigenen künstlerischen Gedanken. Für Radio und Musikfernsehen ist El Cielo zu sperrig, zu verkopft. Die Songs folgen keiner klaren Linie, die Band fordert Hörgewohnheiten heraus. Ein erster Fingerzeig in eine neue Richtung ist das eingängige Same Ol’ Road. Ein wunderschöner, leichter Ausblick auf das Nachfolgealbum von El Cielo. Im Gegensatz zu den Aufnahmen der ersten beiden Alben, dauert die Arbeit am dritten Album verhältnismäßig lange. Dredg fassen erneut den Entschluss, ein Konzeptalbum zu verfassen, allerdings dieses Mal weniger inspiriert von der Kunst. Die Songs handeln von Gegensätzen und beleuchten stets das Positive, wie das Negative einer Sache, um am Ende wieder ein Gleichgewicht zu bilden:
“The whole underlying basis of the lyrics and the music is opposites, contrasts… I’d written some lyrics that are based around conversations or arguments, so we thought about a record with two halves that contrast each other. The whole basis of the record could be about objection to ideas, and contrast.” – Gavin Hayes, 2005
Fenster auf
Das Auffälligste: Dredg öffnen ihre Musik, machen sie zugänglich. Im Gegensatz zum sperrigen, künstlerisch anspruchsvollen El Cielo, fesselt das Album vom ersten Ton. Sie nennen es Catch Without Arms und veröffentlichen es 2005. Im Booklet widmen die Kreateure Hayes und Roulette jedem Song eine persönliche Zeichnung. Genau wie die thematischen Gegensätze pendelt auf dem Album die Musik zwischen hart und weich. Markenzeichen ist die von Gavin Hayes gespielte Slide Gitarre, die er auf der Bühne horizontal auf einem Tisch befestigt. Dazu das Zusammenspiel des antreibenden Gitarrenspiels von Mark Engels in Kombination mit dem glockenklaren Gesang von Hayes.
Ode To The Sun eröffnet druckvoll und stellt den Hörer direkt vor den Gegensatz von Licht und Schatten. Auch nach seinem Ende bleibt es ebenso im Gedächtnis haften wie das folgende Bug Eyes. Für sich alleine stehend der beste Song des Albums, in dem Hayes aus verschiedenen Perspektiven den Lauf des Lebens von Geburt bis Tod hinterfragt. Der Titelsong Catch Without Arms übt Kritik am Verkauf der eigenen Kunst und stellt das Streben nach Wohlstand und künstlerischen Ausdruck gegenüber.
“That’s what happens when you compromise your art“
Im, für Dredg erstaunlich relaxten, Zebraskin, berichtet Hayes über seine Alkoholsucht und deren sozialen Folgen. Dino Campanella hat seinen großen Auftritt in Tanbark Is Hot Lava und verprügelt sein Schlagzeug. Spitshine scheint nicht recht ins Album zu passen, wirkt es etwas poppig. Den grandiosen Abschluss findet Matroschka und reißt am Ende das Fenster weit auf. Wie die gleichnamige russische Steckpuppe, setzen Dredg im Abschluss alles in Relation zueinander und beschließen das Album mit einer Gänsehaut dick wie Raufaser. Die letzten Töne, begleitet von Klickgeräuschen, kriegst du tagelang nicht mehr aus dem Kopf. Ich habe in der Musik selten so gut verstanden, was ein Künstler mit seinem Werk sagen will. Gegensätze. Gut und schlecht. Laut und leise. Zweifel und Zuversicht. Mit Catch Without Arms rannten Dredg bei mir im Vollsprint durch offene Türen.
Ich vermeide generell Superlative. Weil ich finde, dass eine Ende niemals erzählt ist. Bei Catch Without Arms muss ich allerdings meine Einstellung etwas lockern. Das Album gehört für mich zum Besten und hat auf mich immensen, bleibenden Eindruck hinterlassen. Vielleicht weil es zur rechten Zeit kam. Vielleicht, weil der Gesang und die musikalische, wie thematische Intensität meine gesamte Gefühlswelt nach außen stülpten. Ich kann es gar nicht genau benennen. Es ist nicht laut, nicht entspannt, keine Party, kein Exzess. Es ist einfach perfekt. Song für Song. Um das zu begreifen, musste ich einmal in meinem Leben Ruhe bewahren. Auf einer himmelblauen EKTORP-Couch von IKEA. Zu Musik. Jeder der mich kennt, weiß, wie schwer mir das fällt.
Unnützes Kneipenwissen I: Der Name “Dredg” setzt sich anfangs aus den Namen der Bandmitglieder zusammen (DRew – Engels – Dino – Gavin). Die Band beteuert in späteren Interviews, dass sie den Klang des Namens gar nicht so sehr mögen.
Unnützes Kneipenwissen II: “Tanbark Is Hot Lava” ist ein Kinderspiel, bei dem man auf einem Gehweg nicht die Ritzen von Steinplatten berühren darf.
… so viel zu entdecken …
Unnützes Kneipenwissen III: Das Bandsymbol, welches auch das Cover von Catch Without Arms ziert, ist eine stilistische Darstellung des chinesischen Schriftzeichen 易 (“yi”) und steht für “Wechsel”.
Unnützes Kneipenwissen IV: In Europa veröffentlichte die Plattenfirma Catch Without Arms mit dem Bonustrack Uplifting News. Die Band war darüber sehr verärgert, wollten sie den Song ursprünglich anderweitig veröffentlichen. Viel wichtiger: Als 13. Song zerstört er das angedachte, thematische Gleichgewicht der Platte und das ruhig ausklingende Ende von Matroschka. Obwohl der Song, aus meiner Sicht echt gut ist …
Anspieltipps: bitte von eins bis 12 durchhören!
Wenn euch die Sahneplatte gefällt, schaut doch in der Plattenkiste vorbei. Da gibt es noch weitere hervorragende Alben und spannende Geschichten.
Dredg – Catch Without Arms
Genre: | Rock |
Stil: | Alternative Rock, Art Rock, Progressive Rock |
Jahr: | 2005 |
Anzahl Titel: | 13 |
Laufzeit: | 51:43 |
Tracklist
Ode to the Sun | 4:12 |
Bug Eyes | 4:13 |
Catch Without Arms | 4:11 |
Not That Simple | 4:56 |
Zebraskin | 3:26 |
The Tanbark Is Hot Lava | 3:45 |
Sang Real | 4:28 |
Planting Seeds | 4:12 |
Spitshine | 3:34 |
Jamais Vu | 4:55 |
Hung Over on a Tuesday | 4:05 |
Matroshka (The Ornament) | 5:39 |
Uplifting News | 3:22 |
11. Juli 2018 um 8:41 Uhr
Geile Trommelei. Hoher künstlerischer Anspruch. Unpassende Sängerstimme. Klingt als hätte sich der Spandau Ballett Typ stilistisch verlaufen. Da müsste jemand Knurrigeres singen. Dir könnte “Oceanic” von Isis gefallen.