Spätsommer 1993 in der Vorstadt. Vorbereitung auf den großen Wettkampf. Das anstehende 24-Stunden-Schwimmen war in jener Zeit das Jahreshighlight meines Schwimmkalenders. Das Treffen verschiedenster Ortsgruppen aus nah und fern, um einen ganzen Tag lang mindestens einen Schwimmer pro Team permanent im Wasser zu haben. Als Vorbereitung nisteten wir uns einen Abend und eine Nacht im hiesigen Freibad ein, um das Schwimmen zu unchristlichen Tageszeiten optimal zu simulieren.

Die Tage und Wochen vorher gab es auf dem Schulhof ein anderes Gesprächsthema. Viel trivialer, viel tragender und vor allem, viel wichtiger für uns Heranwachsende. Eine (mehr oder weniger) bekannte Rockband kommt den weiten Weg aus Hannover in die Vorstadt, um ihre jüngst gewonnene Bekanntheit und selbstverständlich ihre neuen Lieder in der viel zu großen, von Bausünden durchzogenen, aus der Nachkriegszeit stammenden, örtlichen Sporthalle darzubieten. Wer hat Karten? Wer geht hin? Wen holen die Eltern ab? Nee, so cool war ich leider nicht. Lieber trainieren. Das Freibad lag direkt unterhalb der Sporthalle, so dass ich bei jeder Bewegung meines Kopfes über Wasser die dumpfen Töne von Fury In The Slaughterhouse wahrnahm. Irgendwie war ich mittendrin und doch ganz weit weg.

Jugendclubs und Thunfischsalat

“Schluss mit der Neuen Deutschen Welle. Schluss mit deutscher Gaga-Sprache und totproduzierter Popmusik.”. 1986 zieht sich deutsche Musik langsam in eine Diaspora zurück. Die Bewegung frisst sich selbst. Bis nichts mehr übrig ist. Außer ein unangenehmes Völlegefühl. Im Dezember 1986 teilen in Hannover die Brüder Wingenfelder (Kai – Gesang und Thorsten – Gitarre) dieses Empfinden und gründen mit ihren Freunden Rainer Schumann, Christof Stein-Schneider und Hannes Schäfer die Band Fury In The Slaughterhouse. Englisch wollen sie singen, aber dennoch ihren Lokalpatriotismus zur Region rund um den Mittellandkanal ausleben. Die Mittzwanziger schreiben die ersten Songs und parken ihren Kleinbus vor sämtlichen Jugendclubs, in denen sie spielen dürfen. Inklusive Ein-Mann-Publikum, der lieber einem Thunfischsalat frönt als der Band zuzuhören (Anekdote aus ihrem Livealbum Pure Live! von 1992).

Das Konzept “sich die Seele aus dem Leib zu spielen” funktioniert und so spielen sie anderthalb Jahre später in ausverkauften (kleinen) Hallen. Mit der Art ihrer Musik bedienen sie in den ausgehenden 1980er-Jahren eine Nische, die Stimme von Kai Wingenfelder ist markant mit hohem Wiederkennungswert. 1987 nimmt sie die kleine Plattenfirma SPV unter Vertrag und Fury produzieren ihr Debütalbum, welches keinen Namen trägt und heute als Rarität gilt. 1988 landen einige Songs auf dem bis heute als Debütalbum geltenden, selbstbetitelten Werk Fury In The Slaughterhouse. Darunter eine Hymne, die auf Konzerten der erste große Erfolg der Band wird, Time To Wonder. Die Hallen werden größer, die Konzerte länger. Im gleichen Jahr füllen sie zum ersten Mal das Capitol in Hannover.

Dublin

Die Band gilt noch immer als Geheimtipp. Musik, die große Brüder auf Mixtapes hören. Die Folgealben Jau! (1990) und Hook-a-hey (1991) steigen in die deutschen Albumcharts ein. Fury erspielt sich einen Ruf als ausgezeichnete Liveband. Mit Won’t Forget These Days schreiben sie die nächste (Abifeier)Hymne und veröffentlichen ihr erstes Livealbum (Pure Live!, 1992), welches dem letzten Hörer klarmacht, die musst du sehen. Die Band spielt ihre ersten Konzerte auf englischsprachigem Terrain und lotet aus, ob dies funktioniert. Der Höhepunkt folgt mit der Veröffentlichung ihres vierten Albums Mono im Frühjahr 1993. Das Album klingt nicht nach Hannover, es klingt nach Nashville oder Dublin. Ein Tonträger als personifizierter Durchbruch. Mit Hits, guter Produktion und zeitgenössischem, coolen Artwork. Dazu Musikvideos in angesagter schwarz-weiß Optik, Models und coolen Posen. Fury In The Slaughterhouse sind bereit für die weite Welt.

Geschichten, keine Gedichte

Das Album kratzt an den deutschen Top Ten (Platz 12) und erhält die erste Goldene Schallplatte der Bandgeschichte. Radio Orchid, Every Generation Got It’s Own Disease und das McGuiness Flint-Cover When I’m Dead And Gone laufen auf MTV. Es sind diese Songs, die das Rückgrat des Albums bilden und neue Hörer an die Band führen. Vor allem Radio Orchid besitzt internationales Format und ein perfektes Zusammenspiel zwischen Musik und Text.

Apropos Text. Songs von Fury In The Slaughterhouse bestechen weniger durch höchste Lyrik, mehr durch Verständlichkeit, klare Aussagen und Authentizität. Kai Wingenfelder erzählt einfache Geschichten mit seiner sonoren Stimme und prägt dadurch das Erscheinungsbild der Band. Jungs, die nie so ganz aus dem Jugendclub raus wollen. Mono besticht durch den Wechsel von ruhigen Momenten (Haunted Head And Heart, Friendly Fire) und rockigen, schnellen Stücken (Dead Before I Was Born). Sehr charmant der Opener The Brainsong, der das Thema “Mono” in seinen ersten Klängen aufgreift und das Album in den ersten zwei Minuten musikalisch zusammenfasst. Mono erscheint in Nordamerika und verkauft sich dort über 100.000-mal. So verbringt die Band in der Folgezeit einige Monate in den USA und in Kanada.

Brandschutz

Das Freibad gibt es nicht mehr und Kacheln habe ich ebenfalls lange keine mehr gezählt. Die alte, zu große und voller Bausünden befindliche Sporthalle gibt es noch. Sie wird dieses Jahr grundsaniert. Nach dem besagten Auftritt von Fury In The Slaughterhouse fanden dort keine, für die Jugend bedeutende, Konzerte mehr statt. Gut, Lucilectric war ein Jahr später da. Und Helge Schneider. Danach fielen Worte wie “Brandschutz” und “nicht sicher”. Meine große Zeit mit Fury In The Slaughterhouse erfolgte Jahre später. Während meiner Ausbildung gab es kaum eine Pendelfahrt ohne einen Song ihrer ersten vier Alben. Ihre Spätwerke habe ich dagegen kaum verfolgt. Bin irgendwie raus gewachsen. Mono steht in meiner Plattensammlung als Memorandum. Ein gebrauchte CD. Mit einem weiblichen Namen auf der Hülle. Ganz unverbindlich als nette Aufmerksamkeit.

Die Band beglückt, nach ihrer Auflösung 2008 und ihrer Wiedervereinigung drei Jahre später, zahllose Menschen mit ihren Liveauftritten. Kai Wingenfelder wird nächstes Jahr 60 Jahre alt. Fury In The Slaughterhouse sind für mich ein Synonym dafür, dass auch was Großes in die Vorstadt kommen kann. Und ein Stückchen größer wieder verlässt. Won’t Forget These Days. Sorry, der musste sein.

Unnützes Kneipenwissen I: Im Jahr 1994 hatte Fury In The Slaughterhouse einen Gastauftritt in der kanadischen Fernsehserie Catwalk – Eine Band will nach oben.

Unnützes Kneipenwissen II: Und weil die Kanadier so gut aufgepasst haben, benannte ein Radiosender die Band als “beste irische Band seit U2”. Ehre wem Ehre gebührt.

… und …

Unnützes Kneipenwissen III: Das Original von When I’m Dead And Gone stammt von der englischen Folkgruppe McGuinness Flint aus dem Jahre 1970. Gitarrist und Namensgeber Tom McGuiness spielte zuvor bei Manfred Mann.

 

Anspieltipps: Radio Orchid, The Brainsong, Every Generation Got It’s Own Disease, When I’m Dead And Gone

Höre ich dann am liebsten: 1. Lehrjahr, Berufsschule, Kein Bock

 


Wenn euch die Sahneplatte gefällt, schaut doch in der Plattenkiste vorbei. Da gibt es noch ganz viele weitere hervorragende Alben.



 

Fury In The Slaughterhouse – Mono

Genre:Rock
Stil:Pop Rock, Indie Rock
Jahr:1993
Anzahl Titel:13
Laufzeit:50:10

Tracklist

The Brainsong2:26
Generation Got Its Own Disease5:28
Dead Before I Was Born3:01
Radio Orchid4:37
Waiting For Paradise4:06
Haunted Head And Heart4:54
When I'm Dead And Gone4:06
When God Goes Home4:47
Friendly Fire4:16
Hell Gets You Nowhere3:48
Money Rules3:55
In Your Room3:05
Money Junkie2:40