Am 01. Februar 1995 verlässt Richey Edwards London. Gegen sieben Uhr am Morgen besteigt der Gitarrist der Manic Street Preachers sein Auto im Embassy Hotel in der Bayswater Road. Dabei hat er seine Brieftasche, seine Autoschlüssel sowie eine geringe Menge Prozac, ein Antidepressivum. Zurück lässt er seinen gepackten Koffer, Hygieneartikel und weitere Medikamente. Statt zum Flughafen, um mit seinem Bandkollegen James Dean Bradfield auf Werbetour in die USA zu fliegen, fährt er mehrere Stunden in Richtung Westen. In seine Heimat Wales. Ebenfalls im Hotel lässt er ein sorgfältig eingepacktes Geschenk aus Büchern zurück, adressiert an eine “Jo”. In Wales verliert sich jede Spur von Edwards.

In den folgenden Tagen mehren sich verschiedene Personen, die ihn gesehen haben wollen. Unter anderem in einer Passstation in Newport. Am 14. Februar erhält sein Auto an der Severn Bridge, die das walisische Monmouthshire mit dem englischen Gloucestershire verbindet, einen Strafzettel. Die Batterie ist leer. Die Polizei findet Anzeichen, dass jemand in dem Wagen übernachtet hat. Am 17. Februar 1995 melden seine Angehörigen Richey Edwards als vermisst. Das gilt er bis heute. Die Manic Street Preachers verfallen ohne ihren begnadeten Texter in Apathie.

Ikonen

Für junge Menschen gibt es im Süden Wales Mitte der 1980er-Jahre keine große Auswahl an Freizeitbeschäftigungen. Die meisten spielen Fußball oder machen Musik. Die britische Regierung um Margaret Thatcher treibt die Privatisierung von Firmen und Wohnraum voran, in den industriellen Randgebieten Großbritanniens herrschen Arbeitslosigkeit und sozialer Frust. So auch in Blackwood, Monmouthshire, ein paar Meilen nördlich von Cardiff. Walisische Provinz. Mehr aus Langeweile, denn aus Überzeugung, beschließen die Schulfreunde James Dean Bradfield (Gesang, Gitarre), Nick Wire (Bass) und Sean Moore (Schlagzeug) Musik zu machen. Inmitten von politischer Rebellion und sozialer Depression wollen sie eine Stimme sein. Sich positionieren. Mit dabei, Richey Edwards, der anfangs lediglich zur Gruppe stößt, weil er einen Führerschein besitzt. Und sich nicht zu schade ist, das Equipment zu schleppen.

Edwards musikalisches Talent ist überschaubar, er besitzt eine andere Gabe. Er stellt sich als brillanter Texter und Designer heraus, der ein natürliches Gespür für Auftritt und Worte besitzt. Die Band nimmt ihn als festes Bandmitglied auf und bringt ihm ein ausreichendes Gitarrenspiel bei. Die Rollen sind klar verteilt: Bradfield und Moore komponieren die Musik, Edwards und Wire schreiben die Texte. Um dem Stillstand zu entfliehen, stürzen sie sich ohne Plan in die Musik.

1990 erscheint ihre erste EP New Art Riot. Sie nennen sich Manic Street Preachers, passend zur Intention ihrer Musik. Die Songs der ersten EP sind direkt und strotzen vor Selbstbewusstsein. Genau die Attitüde, die britische Musikjournalisten lieben und hofieren. 1991 trifft sich die Band mit einem Musikjournalisten des NME zu einem Interview. Mitten in einer Debatte zum Thema Glaubwürdigkeit zückt Edwards ein Rasiermesser und ritzt sich großflächig “4REAL” auf den Unterarm. Das Foto von Richey Edwards mit den frischen Schnittwunden gilt als eines der ikonischsten Bilder der modernen Rockmusik.

Die Heilige Schrift

Was nichts anderes als eine lächerliche Geste ist (und mit 17 Stichen genäht werden muss), gilt als kalkulierte Handlung um die Medien zu beeindrucken. Und es funktioniert. Die Manic Street Preachers sind ab sofort auf dem Radar der Presse. 1992 erschient ihr Debütalbum Generation Terrorists. Vollmundig verspricht die Band das “beste Rockalbum aller Zeiten”, wie es jede britische Band jener Zeit tut. Jedenfalls ist Generation Terrorists ein Ausrufezeichen. Wütend, abgeklärt, manchmal wirr, manchmal hymnisch. Und mit Motorcycle Emptiness schreiben sie ihren ersten Hit über die Verführungskunst des Kapitalismus. 1993 erscheint das zweite Album Gold Against The Soul. Etwas ruhiger und mit mehr persönlichen als politischen Themen.

Wieder ein Jahr später veröffentlichen die Manic Street Preachers ihr drittes Album. Es ist 1994 und der Britpop steht in der Tür. Blur veröfffentlichen mit Parklife das wohl “britpoppigste” aller Alben und Oasis schreiben auf ihrem Debüt Definetly Maybe erste Hymnen. Im absoluten Kontrast erscheint The Holy Bible, auf dem sich die Manic Street Preachers auskotzen. Sperrig, vielschichtig, verwirrend. Für den Massenmarkt nicht geeignet. Dennoch wird The Holy Bible ein Triumph. Für die Manic Street Preachers ein Manifest an Authentizität und sozialer Verantwortung. Für Richey Edwards der Zenit an lyrischem Ausdruck und Positionierung. Eine Rockplatte die aneckt und Staub aufwirbelt. Kritiker sind begeistert.

Schwerer Charakter

Am 21. Dezember 1994 spielen die Manic Street Preachers ihr letztes Konzert als Quartett im Londoner Astoria. Sechs Wochen später ist Richey Edwards verschwunden. Bis heute. Sein Charakter und seine Persönlichkeit waren geprägt von Stimmungsschwankungen, Depressionen und selbstverletzendem Verhalten. Ein Suizid, an einem bekannten Ort für Selbsttötung nahe seiner Heimat, liegt auf der Hand. Sein Umfeld bestreitet dies vehement. Selbst äußerte er ein Jahr zuvor in einem Interview seine Meinung zu Suizid:

“In terms of the ‘S’ word, that does not enter my mind. And it never has done, in terms of an attempt. Because I am stronger than that. I might be a weak person, but I can take pain.” – Richey Edwards, 1994

Seine Familie weigert sich lange, seinen Status von “vermisste Person” in “gesetzlich verstorben” zu ändern. Erst 2008 ändern sie den Akteneintrag auf “mutmaßlich verstorben”. The Holy Bible gilt als offizielles Vermächtnis Edwards.

Therapie

Die Band ist paralysiert. Niemand weiß wie es weitergeht. Jeder verschanzt sich zu Hause. Nachfragen von Fans und der Presse belasten die restlichen Bandmitglieder. Alle sind wieder in der Melancholie und dem Stillstand angekommen, in dem sich die Band einst gründete. Es gibt keinen Abschluss. Keine Trauer. Keine Gewissheit. Die Eltern von Edwards äußern bei einem Besuch der restlichen Band den Wunsch, bitte wieder ein Album als Manic Street Preachers aufzunehmen. Es darf nicht mehr nichts passieren. Vielleicht bringt es den verschwundenen Freund zurück, wenn er sieht, dass die Band ihren Weg fortsetzt. Bradfield, Wire und Moore beschließen, im neuen Album den größtmöglichen Kontrast zur Situation zu suchen. Allgegenwärtig, hymnisch und lebensbejahend soll die Platte sein. Wire textet bestmöglich alleine und verwendet für einige Songs Fragmente von Edwards. Es entstehen die ersten Liebeslieder der Band (Further Away, A Design For Life), Songs über Künstler (Kevin Carter, Interiors) und Perspektivwechsel (Australia).

Ich liebe dieses Album und kann es kaum ohne Gänsehaut hören. Es ist so unglaublich offen und positiv. Die Art wie James Dean Bradfield singt, im Refrain oftmals schreit, als will er die Zeiten der Ungewissheit und Apathie mit voller Inbrunst beenden. Everything Must Go erscheint im Mai 1996, auf dem Höhepunkt des Britpop und “Cool Britannia”. Es gilt als Meilenstein des Genres, ohne dass sich die Band je mit den Werten dessen identifiziert. Die Songs sind große Hymnen voller Lichtdurchflutung. Die Fans gehen nach dem Schock, um das plötzliche Verschwinden von Edwards, den Weg mit. Das Album erreicht Platz #2 der britischen Charts und in seinem kommerziellen Erfolg, lediglich 1998 vom Nachfolger This Is My Truth Tell Me Yours getoppt. Für die Manic Street Preachers ist das Album eine Therapie, bis heute veröffentlichen sie 13 Studioalben und gelten in Großbritannien weiterhin als “Kultband” und Stimme der Arbeiterklasse.

Leere Klammer

Everything Must Go ist eine wunderbare Sommerplatte. Fenster auf, mitsingen. Pausenlos. A Design For Life ist für mich in puncto Lyrik, Ausdruck und Intensität eines der schönsten Lieder überhaupt. Ein Klassiker, der verbunden mit den Vorzeichen des Albums umso mehr an Relevanz gewinnt. Das Album verbreitet die Stimmung und Hoffnung, die es nach dem Verschwinden von Richey James Edwards braucht. Dazu passen die leere Klammer im Titel des Artworks der Platte. Jeder kann den leeren Raum mit dem füllen, was ihn hoffnungsfroh stimmt. Der Tod, mit seinem plötzlichen Verlust, ist schlimm. Suizid ist mit Sicherheit der beschissenste Weg und niemals eine Lösung. Ein Verschwinden, ohne Erklärung, ohne Sinn und ohne Anzeichen ist das Schlimmste. Nicht zu wissen, ob und wie es weitergeht, aktiv oder passiv zu sein und Ohnmacht zu erfahren ist auf Dauer nicht auszuhalten. Everything Must Go verschafft Linderung. gegen Lethargie, gegen fehlenden Antworten und gegen Zweifel.

Unnützes Kneipenwissen I: Sollte sich der Tod von Richey Edwards aus dem Februar 1995 amtlich bestätigen, so wäre er ein weiteres prominentes Mitglied des “Club 27” (berühmte Personen, die mit 27 Jahren starben, u.a. Kurt Cobain, Janis Joplin, Amy Winehouse).

Unnützes Kneipenwissen II: Bis heute zahlen die Manic Street Preachers 25% ihrer Einnahmen auf ein separates Konto, auf welches Richey Edwards im Falle seines Auftauchens Zugriff hätte.

Unnützes Kneipenwissen III: Kevin Carter ist ein Song über den gleichnamigen südafrikanischen Fotografen und Pulitzer-Preisträger. 1993 fotografierte er im Sudan bei einer UN-Essensausgabe ein halbverhungertes Mädchen, dem sich im Hintergrund ein Geier nähert. Zwei Monate nachdem die Jury ihn für dieses Foto auszeichnete, nahm er sich mittels einer Kohlenmonoxidvergiftung das Leben. Er wurde 33 Jahre alt.

Unnützes Kneipenwissen IV: Die Manic Street Preachers sind die erste britische Band, die in Kuba, auf persönliche Einladung Fidel Castros, auftreten durften.

 

Anspieltipps: A Design For Life, Kevin Carter, Everything Must Go, Australia

 


Wenn euch die Sahneplatte gefällt, schaut doch in der Plattenkiste vorbei. Da gibt es noch weitere hervorragende Alben und spannende Geschichten.



 

Manic Street Preachers – Everything Must Go

Genre:Rock
Stil:Rock, Brit Rock
Jahr:1996
Anzahl Titel:12
Laufzeit:45:24

Tracklist

Elvis Impersonator: Blackpool Pier3:29
A Design for Life4:16
Kevin Carter3:24
Enola/Alone4:07
Everything Must Go3:41
Small Black Flowers That Grow in the Sky3:02
The Girl Who Wanted to Be God3:35
Removables3:31
Australia4:04
Interiors (Song for Willem de Kooning)4:17
Further Away3:38
No Surface All Feeling4:14