Mitte der 1990er-Jahre, ein urbanes Einkaufsareal in einer deutschen Mittelstadt. Ein dünner Junge betritt den örtlichen Karstadt und fährt mit der Rolltreppe in den dritten Stock. Musikabteilung. Tonträger überall. Kurzer Check der Geldbörse ergibt zehn Mark. Dünnes Süppchen. Entschlossener, aber widerwilliger Schritt vorbei an den Neuerscheinungen. Aus dem Augenwinkel die neue Platte von Mark ‘Oh abschätzig ignoriert. Reicht heute nur für Restposten. Auf zum Grabbeltisch mit den roten “Nice Price”-Aufklebern. Minutenlanges Gefische unter dem Plastikgeklapper der CD-Cases. Plötzlich ein violettes Cover in der Hand. Fünf Hände, acht Großbuchstaben. Ungläubiger Blick. 9,99 Mark. Ernsthaft? Haben sich Pearl Jam schon aufgelöst? Ausverkauf? Fragende Blicke streifen die Verkäuferin. Auf der Kasse blinkt wirklich 9,99. Ein Pfennig zurück, CD in die Tasche. Ein neues Lebensgefühl für ‘nen schmalen Zehner und der Beginn einer über zwanzigjährigen Liebe zu einer Band. Pearl Jam waren für mich immer besonders.
Der singende Tankwart
Am 19. März 1990 starb Andrew Wood in Seattle an einer Überdosis Heroin. Er wurde der erste Todesfall des “Grunge”, bevor es dieses Genre überhaupt gab. Seine junge Band “Mother Love Bone” löste sich im Zuge seines Todes auf, bevor sie berühmt wurde. Gitarrist Stone Gossard und Bassist Jeff Ament entschlossen sich, weiterhin Musik zu machen. Freunde zum jammen gab es im Seattle jener Zeit zuhauf, so stieß der zweite Gitarrist Mike McGready zeitnah zum losen Bandtorso. Die Drei nahmen mit Hilfe von Aushilfsschlagzeuger Matt Cameron ein Demotape auf, ohne als richtige Band zu gelten. Schließlich fehlte mit einem Sänger das essentielle Puzzleteil.
Über Jack Irons (Ex-Schlagzeuger der Red Hot Chili Peppers) landete das Demotape bei einem Tankwart und Hobbysurfer namens Eddie Vedder in San Diego. Bei einer seiner Nachtschichten auf der Tankstelle hörte er das Tape, ging am nächsten Morgen surfen und schrieb daraufhin Texte für drei Songs der Aufnahme. Er nannte sie “Alive“, “Once” und “Footsteps“. Er besang das Tape mit seinen Texten und schickte es zurück nach Seattle. Eine Einladung von Gossard, Ament und McGready folgte umgehend. Im Flugzeug nach Seattle schrieb er einen weiteren Text und nannte den Song “Black“. Vedders Stimme war kraftvoll, markant und emotional. Es passte. Alle Anwesenden baten ihn umgehend, den Tankwart an den Nagel zu hängen und mit ihnen zusammen eine feste Band zu gründen. Pearl Jam waren geboren.
Kleine Brötchen
Außergewöhnliche Situationen, in denen Vedder Texte für die Band schrieb, gab es weiterhin. Den Text zu “Oceans” schrieb er, als der Rest der Band ihn während den Proben versehentlich im strömenden Regen aussperrten:
“Someone asked me to put change in the parking meter for them […] I went and did that and then I came back and was locked out. It was drizzling and I wasn’t dressed for an outing in the rain. I had a scrap of paper and a pen in my pocket, and they were playing this song [inside]. All I could hear was the bass coming through the wall, this window that was boarded up. So I wrote the song to the bass. I wasn’t even listening to hear the song at first. When I heard a break, I’d start pounding on the door […] trying to get out of the rain. So as I was doing that, I thought, fuck it, I might as well write something.” Eddie Vedder, Seattle Sound, 2009
Alsbald begannen Pearl Jam ihre Demos für ihr Debütalbum “Ten” professionell aufzunehmen. Das Ganze mit einem geringen Gesamtbudget von knapp 100.000 US-Dollar. Für das Cover kreierten die fünf Bandmitglieder eine selbstchoreografierte “All for one”-Pose vor einer Holzkonstruktion des Bandnamens. Diese Konstruktion stellte Jeff Ament in mühevoller DIY-Heimarbeit her. Die Pose zudem in wunderschöner Klamotte aus dem heimischen Kleiderschrank der frühen 1990er-Jahre. Die Band agierte in allen Bereichen auf “Schmalhans-Küchenmeister”-Budget. Der “Lohn”: Ten blieb die ersten Wochen nach Veröffentlichung wie Blei in den Regalen liegen. Es verkaufte sich nicht.
“Here we are now, entertain us”
Erst ein Urknall, einige Wochen später, zog das Album mit wie einen Wasserskiläufer hinter einem Motorboot. Ein Album namens “Nevermind” stellte erst die Vereinigten Staaten, dann die restliche Musikwelt auf den Kopf. Seattle wurde zum Epizentrum, quasi zum Liverpool der 1990er-Jahre. Alle trugen Converse, Karo-Fleecehemden und kaputte Jeans. Grunge eroberte die Charts, die Clubs sowie die Zimmer einer ganzen Jugend. Pearl Jam fanden ihre Spur und Ten die Beachtung die es verdient.
Selbstverständlich habe ich Pearl Jam nicht erst mit dem erwähnten “Nice Price-Kauf” kennengelernt. Die Band war mir bereits im Zuge von Nirvana, Soundgarden oder Alice in Chains ein Begriff. Vor allem Alive, die Genre-Hymne samt orgastischem Gitarrensolo, durfte auf keiner Party fehlen. Erst mit dem Kauf des Albums, entfaltete sich mir die unglaubliche Atmosphäre der Songs, die durch die düsteren, melancholischen Texte Vedders keineswegs pessimistisch-depressiv klingen. Ich finde das Album, dank Songs wie Oceans, Garden oder das grandiose Black, eher sinnlich, in einigen Momenten gar intim. Am Ende lässt Release nochmal frische Luft rein, nachdem Porch fragt, wo du eigentlich warst?
Über allem stehen die Songs Alive, Jeremy und Once. Alle drei sind Songs für die Ewigkeit. Mit einem hohen hymnischen Charakter, konträr zu den schweren, verstörenden Texten, die den Hörer mit grübelnder Gänsehaut zurücklassen. Bei Jeremy kommt mit dem dazugehörigen Musikvideo eine visuelle Emphase hinzu. MTV spielte das Video erst in Dauerrotation, später aufgrund von Schulamokläufen gar nicht mehr.
Vom “Eintuppern” des Besonderen
Apropos MTV: mit dem Gefühl von Ausnutzung und falscher künstlerischer Darstellung im Zuge ihres Debütalbums Ten, boykottierten Pearl Jam in den Folgejahren das Musikfernsehen und drehten keine Musikvideos mehr. In der damaligen Zeit ein absolutes Novum, verwehrten sie sich damit dem wichtigsten Marketingkanal überhaupt. Ten steht zu Beginn einer Albumtrilogie, die mit den Folgealben “Vs.” (1993) und “Vitalogy” (1994) komplettiert wurde. Obwohl die Folgealben in ihren Themen und der musikalischen Darbietung differieren, sind alle Alben für mich Meisterwerke und werden in weiteren Blogbeiträgen gewürdigt. Versprochen!
Pearl Jam sind für mich besonders, verfolge ich sie seit über 20 Jahren. Jede Albumveröffentlichung habe ich verfolgt und bin sehr froh, dass es sie immer noch gibt. Ich liebe die Stimme von Eddie Vedder! Nach dem Tod von Chris Cornell sollten wir alle ganz besonders auf ihn aufpassen, der Grunge hat zu viele Opfer gezählt. Zu viele Poster im Kinderzimmer sind verblasst. Pearl Jam fehlen mir noch als Kerbe auf meinem Bettpfosten der Livekonzerte. Ein Jammer, spielen sie heute mittlerweile Gigs von drei und mehr Stunden. Ich habe mir geschworen, dass sich dies ändern muss. So habe ich mir die Aufgabe auferlegt, das nächste Konzert zu besuchen. Egal, wo sie in EUROPA spielen. Ich gehe das Ganze kontinental an.
Es klingt komisch, ich höre Ten am liebsten im Dunkeln, wenn ich Auto fahre. Es passt einfach…
Unnützes Kneipenwissen I: Die Band nannte sich ursprünglich “Mookie Blaylock”, nach einem Aufbauspieler der NBA, der damals bei den New Jersey Nets spielte. Seine Rückennummer war die Zehn. Als die Band zu große Rechtsstreitigkeiten befürchtete, änderte sie ihren Namen in Pearl Jam. Einen Tribut gab es dennoch, nannten sie ihr Debütalbum schließlich “Ten“.
Unnützes Kneipenwissen II: Woher der letztendliche Bandname “Pearl Jam” stammt, ist nicht zweifelsfrei belegt. Angeödet von der permanenten Fragerei der Journalisten, erzählte Eddie Vedder die Geschichte von seiner indianischen Urgroßmutter namens Pearl, die hervorragende halluzinogene Marmelade kochte. Ob die Geschichte stimmt oder ins Reich der Fabeln gehört, wurde nie aufgeklärt.
Anspieltipps: Jeremy, Black, Alive, Once
Höre ich dann am liebsten: im Dunkeln auf einer schönen Landstraße
Pearl Jam – Ten
Genre: | Rock |
Stil: | Grunge |
Jahr: | 1991 |
Anzahl Titel: | 11 |
Laufzeit: | 53:26 |
Tracklist
Once | 3:51 |
Even Flow | 4:53 |
Alive | 5:40 |
Why Go? | 3:19 |
Jeremy | 5:43 |
Black | 5:18 |
Oceans | 2:41 |
Porch | 3:30 |
Garden | 4:58 |
Deep | 4:18 |
Release (+ Hidden Track "Master/Slave") | 9:04 |
7. August 2017 um 8:09 Uhr
Wegweisende Platte, fand das neben Dirt immer fast wichtiger als Nevermind.
7. August 2017 um 8:13 Uhr
Dirt, Ten und Nevermind sind ein wunderbarer “Dreiklang”. Dirt ist etwas häßlich und wirklich düster, wohingegen Nevermind dank seiner Produktion eine “Pop-Platte” ist. Ten steht mMn dazwischen und hat damit ein sehr gutes Fahrwasser gefunden…;)
Mit dem Unterschied, dass Pearl Jam dankenswerterweise nicht “der Sprit ausging”….:)
7. August 2017 um 23:57 Uhr
Für mich Ist Eddie Vedder mit Chris Cornell zusammen die Speerspitze der Grunge Sänger, wobei Vedder das unterschwellig aggressive besser bringt als Cornell. Der hat vielleicht die Höhen besser im Griff. Pearl Jam aber ist um Längen besser als alle anderen (Nirvana, Soundgarden und sonst wer eingeschlossen), weil die Band und der Sänger zu einer Einheit werden, in der die Musik die Worte auf andere Art ausdrückt. Das macht Soundgarden nur in ihren besten Stücken, und bei Nirvana ist es oft ein Solokonzert von King Curt.
Wenn ich “Alive” höre gehen mir kalte Schauer den Rücken entlang…
8. August 2017 um 9:56 Uhr
Hey Alex,
das hast du fantastisch zusammengefasst! Vielen Dank dafür.
Ich stimme mit dir (fast) überein, für mich sind Nirvana allerdings sehr essentiell. Ohne “Nevermind” wären uns die anderen Bands sehr wahrscheinlich vorenthalten worden und hätten lediglich eine regionales Dasein gefristet.
Über die Sangesleistungen müssen wir nicht diskutieren, da bin ich voll bei dir.
Auf “Ten” sind gar nicht mal meine Lieblingssongs von Pearl Jam, dass Album hat für mich allerdings eine unglaubliche atmosphärische Dichte. Das packt mich jedes Mal….:)
8. August 2017 um 20:21 Uhr
Hi Torsten,
Ich wollte Nirvana nicht schmälern, sie sind wirklich essentiell, aber der Hype der speziell nach der “Unplugged Live” entstand, machte aus ihnen eine One-Man-Show. Ds meinte ich. Außerdem ist Cobain in Gesellschaft von Cornell und Vedder eher der “Cocker” der 90er Jahre 🙂
Ich hörte zuerst Ten (auf der Arbeit), dann Blind Melon, dann Superunknown- da hat mich Black Hole Sun gleich weggeblasen, der Rest dauerte länger, und dann erst Nevermind…
Vedder drückt jedenfalls die existentialistische “German Angst” perfekt aus, sehr glaubwürdig!
8. August 2017 um 22:28 Uhr
Hey Alex,
Sehr geil! Ich seh schon, ich lade dich gerne mal auf nen Gastbeitrag ein… 😉.
Und Blind Melon, wie cool… Der nächste Drogentote, aber No Rain vergöttere ich! 😉😉
8. August 2017 um 12:42 Uhr
Äh?? Noch nie ein Konzert live gesehen?? Ich empfehle: Plane mehr als eins, wenn möglich 🙂 Sonst bereust Du es womöglich noch. Grüße, Robert
8. August 2017 um 12:55 Uhr
Ja Robert, tue ich jetzt schon. Es ist eine Schande….
Pearl Jam hat sich einige Jahre auch echt rar gemacht oder sie spielen in Deutschland ganz wenige Konzerte….irgendwie hat es nie gepasst.
Seit dem Vorfall in Roskilde 2000 spielen sie auch keine/kaum Festivals mehr in Europa, ist alles sehr traurig.
Deswegen weite ich meinen Entschluss auch mal auf den Kontinent aus….;)