Ich bin sicher, jeder hat ihn. DEN einen Freund, der den Großteil der eigenen Jugend begleitet. Sei es durch die gemeinsame Kindergarten-/Schulzeit oder durch das Wohnen in der nächsten Nachbarschaft. Ich habe enge Freunde, die mich durch die Wogen der stürmischen Schulzeit begleiteten, aber in der Nachbarschaft gab es diesen einen, besonderen Freund. Wahrscheinlich wären wir uns nie über den Weg gelaufen, wenn unsere Eltern nicht Zaun an Zaun gewohnt hätten. Zweieinhalb Jahre älter ist in der Jugend ein Unterschied, es gab keinen gemeinsamen Freundeskreis. Aber dennoch viel Zeit miteinander.
Es waren Zeiten, in denen ein angeschaltetes Licht im Zimmer gegenüber signalisierte “Bin zuhause” und zum Sprung über den Gartenzaun führte. Abseits von heutigen Messenger- oder Whatsapp-Litaneien. Die Hausschuhe hab ich gar nicht erst ausgezogen. Sein Vater hatte eine gut sortierte Plattensammlung, vornehmlich Classic Rock und Blues. Wir wuchsen auf zu den Ärzten, staunten bei Nirvana und fühlten uns cool zu Faith No More. Unser kleinster musikalischer Nenner ist eine Band aus London, deren Hochphase die 1970er-Jahre bekleidet und, strenggenommen, ein Gegenpol zu unserer musikalischen Pubertät darstellt. Wir haben (fast alles) von Supertramp gehört. Crime Of The Century ist unvergessen.
Zwei Enden einer Skala
Als Supertramp sich 1969 gründen, sind sie nicht mehr als eine Laune. Die “Swinging Sixties” heben Rockmusik in den akzeptierten Bereich der Gesellschaft. Der niederländische Industrielle Stanley ‘Sam’ August Miesegaes ist Millionär und hat es sich zum Hobby gemacht, in seinen Augen talentierte Musiker finanziell zu unterstützen. So gesehen, ist Sam Miesegaes ein Musikmäzen, der im Jahr 1969 keine Lust mehr verspürt, seine Unterstützung für die mäßig erfolgreiche Band The Joint aufrechtzuerhalten. Der Keyboarder allerdings hat es ihm angetan. Rick Davies stammt aus Swindon und gilt als talentierter Songwriter, als Miesegaes ihm anbietet, sich mit seiner Unterstützung eine eigene Band zu suchen. Davies nimmt das Angebot an und kontaktiert umgehend Rodger Hodgson, der als guter Gitarrist gilt und ebenfalls Stärken im Songwriting zeigt.
Privat sind die beiden Musiker zwei Enden einer Skala, mit unterschiedlichen persönlichen Eigenschaften und musikalischen Präferenzen. Davies stammt aus der Arbeiterklasse und verehrt Künstler aus Blues und Jazz. Hodgson hingegen ging auf eine Privatschule und ist ein Fan melodiöser Popmusik. Die beiden gelten zu keiner Zeit als beste Freunde. Umso erstaunlicher, wie perfekt sie in der gemeinsamen Musik miteinander harmonieren. Ihre Band nennen sie Daddy und komplettieren ihr Aufgebot mit Richard Palmer (Gitarre) und Keith Baker (Percussions). Zu Beginn finden ausschließlich Proben statt, alsbald ersetzt Robert Millar Keith Baker in der Gruppe. Nach mehreren Monaten scheint die gemeinsame Arbeit nicht sehr produktiv, so spielt die Band lediglich vier Songs ein. Davon zwei Coverversionen. Ihr erster, zehnminütiger Auftritt findet 1970 in München statt. Um Konfusionen mit anderen Bands zu vermeiden, ändern sie ihren Namen in Supertramp. Inspiriert durch den Roman The Autobiography of a Super-Tramp von William Henry Davies.
Nullpunkt
Im gleichen Jahr unterzeichnen Supertramp ihren ersten Plattenvertrag bei A&M Records und veröffentlichen ihr selbstbetiteltes Debütalbum. Ihr Stil ist klassischer Progressive Rock, mit dem sie den Kritikern eine hochgezogene Augenbraue abgewinnen. Die Verkaufszahlen sind mies. Ihr zweites Album Indelibly Stamped erscheint ein Jahr später, wieder mit neuen Bandmitgliedern an Bass und Percussions. Das Ergebnis bleibt das gleiche: Moderate Kritik, schlechte Verkaufszahlen. Bereits zwei Jahre nach ihrer Gründung zeigen Supertramp, aus Mangel an Erfolg, Auflösungserscheinungen. Bis auf die Songwriter Hodgson und Davies verlassen alle Mitglieder die Band und Sam Miesegaes stellt 1972 die finanzielle Unterstützung komplett ein. Nullpunkt.
Das einzige was bei Hodgson und Davies bleibt, ist der Glaube an das eigene Potential im Songwriting. Die beiden nehmen sich eine kleine Auszeit und stellen die Band personell neu auf. Am Bass gewinnen sie Dougie Thomson und an den Percussions Bob Siebenberg für sich. Sie verfeinern die Band um Bläser John Helliwell, der mit Saxofon, Klarinette und weiteren Holzblasinstrumenten den Sound von Supertramp in den Folgejahren maßgeblich prägt. Nach all den Turbulenzen der Anfangsjahre bildet sich ein Line-Up, was bis zum Ausstieg Hodgsons zehn Jahre später Bestand haben soll.
Gemeinsam Zweisam
Nicht nur die Bandmitglieder haben unter dem nicht vorhandenen Erfolg von Supertramp gelitten, auch das Herzstück, das gemeinsame Songwriting von Davies und Hodgson, beginnt an Harmonie zu verlieren. Finden die beiden privat generell kein Zugang zueinander, gerät zudem der gemeinsame Kreativprozess ins Stocken.
“There’s a very deep bond, but it’s definitely mostly on a musical level. When there’s just the two of us playing together, there’s an incredible empathy. His down-to-earth way of writing, which is very rock ‘n’ roll, balances out my lighter, melodic style.” – Rodger Hodgson, 2015
Dennoch macht sich die Band 1973 an die Aufnahmen zu ihrem dritten Album Crime Of The Century, bei dem die beiden Songwriter vermehrt Songs alleine schreiben und einsingen. Dennoch tragen sie mit dieser Taktik mehr als 40 Songs zusammen, aus denen Acht final auf dem Album landen. Weitere erscheinen in den Folgejahren. Aufgrund von Vertragsdetails mit der Plattenfirma, müssen alle Songs in den Credits als Kollaboration zwischen Davies und Hodgson ausgewiesen sein. In der Realität sind nur zwei Songs auf dem Album, die beide gemeinsam schreiben.
Kennt jedes Kind
Der Druck, eine erfolgreiche Platte zu veröffentlichen, ist enorm. Die Plattenfirma hängt im Nacken, die Statik der Band bröckelt. Crime Of The Century ist der letzte Schuss. Und er sitzt. Dank starken Melodien und neuen Instrumenten (Wurlitzer Orgel, Saxofon, Klarinette) steigt Crime Of The Century bis auf Platz #4 der britischen Charts. Was soll ich sagen, das Album hat mich tief geprägt und gezeigt, dass Songs, jenseits der fünf Minuten Länge, eingängig und emotional sein können.
Mit School beginnt das Album mit meinem absoluten Lieblingslied von Supertramp. Ich weiß nicht, wie oft ich es hörte. Und ich bekomme immer noch Gänsehaut. Bloody Well Right ist die Gute-Laune-Blues-Nummer von Rick Davies, wohingegen Hodgson mit Hide In Your Shell neue Maßstäbe in Zerbrechlichkeit setzt. Das in sich gipfelnde Asylum ist der Höhepunkt in der Plattenmitte und das poppige, sich dem Progressive verschließende Dreamer kennt in meiner Generation jedes Kind (s. Unnützes Kneipenwissen). Auf diesem, mit seiner Länge charttauglichen Stück, basiert der Erfolg des Albums.
Das Schlussstück, und dem Album namensgebende Crime Of The Century, ist in seiner Emotionalität die perfekte, schließende Klammer zu School. So greift es in den letzten Tönen am Ende das Mundharmonikathema vom Beginn der Platte erneut auf. Insgesamt setzen sich die Songs intensiv mit den Themen Einsamkeit und mentale Stärke auseinander. Die raue Stimme von Rick Davies harmoniert perfekt mit dem Falsettgesang von Rodger Hodgson, obwohl lediglich School und Crime Of The Century die einzigen Songs sind, die beide gemeinsam schreiben. 2015 zählt der Rolling Stone Crime Of The Century zu den 50 besten Progressive Rock-Platten aller Zeiten. Nahezu alle Songs des Albums gehören für viele Jahre zum regelmäßigen Liverepertoire der Band.
Der gemeinsame Nenner
Im Laufe der Folgejahre verlassen Supertramp mehr und mehr den Progressive und Art Rock und schreiben poppige Songs. Der Erfolg wächst und gipfelt 1979 kommerziell im Album Breakfast in America, welches sich knapp 20 Millionen Mal verkauft. Mit meinem Freund aus Kindertagen trennt mich derweil mehr als ein Gartenzaun. Um genau zu sagen, sind es mittlerweile knapp 600 Kilometer. Wir sehen uns äußerst selten. Familie, Job, andere Lebensumstände. Ähnlich der persönlichen Distanz zwischen Rick Davies und Rodger Hodgson. Der gemeinsame Nenner, die gemeinsame Erfahrung der musikalischen Pubertät, bleibt. Neben Autoquartetts, Comicheften und durchzockten Nächten am Computer. Supertramp bleiben auch. Nicht mehr so oft, aber genauso intensiv. “Now they’re planning the crime of the century. Well what will it be?”
Unnützes Kneipenwissen I: Dreamer ist in Deutschland vor allem als Titelmelodie des Reisequiz “Ein Tag wie kein anderer” bekannt, welches im TV von 1984 bis 1993 auf RTL plus lief. Als Pionierssendung des deutschen Privatfernsehens ein stets gesehenes Muss meines kindlichen Ichs. Sicherlich auch der unterbewussteste Grund meines Geografiestudiums.
Unnützes Kneipenwissen II: Das Mundharmonikaintro von School besitzt eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Stück “Der Mann mit der Mundharmonika” aus dem Western “Spiel mir das Lied vom Tod”. Bestätigt wurde diese Verbindung nie.
… und? …
Unnützes Kneipenwissen III: Drummer Bob Siebenberg brachte uns in der Vergangenheit kindliche Erheiterung. Das dieser in den Booklets verschiedener Alben mal “Bob Siebenberg”, mal “Bob C. Benberg” genannt wurde, hielten wir für einen unkonzentrierten Fehler der Plattenfirma. Dass der Mann tatsächlich “Bob C. Benberg” als Künstlernamen benutzt, darauf wären wir bei aller Offensichtlichkeit im Leben nicht gekommen. Verrückt.
Anspieltipps: School, Crime Of The Century, Asylum, Dreamer
Wenn euch die Sahneplatte gefällt, schaut doch in der Plattenkiste vorbei. Da gibt es noch weitere hervorragende Alben und spannende Geschichten.
Supertramp – Crime Of The Century
Genre: | Rock |
Stil: | Progressive Rock, Art Rock |
Jahr: | 1974 |
Anzahl Titel: | 8 |
Laufzeit: | 44:10 |
Tracklist
School | 5:35 |
Bloody Well Right | 4:32 |
Hide In Your Shell | 6:49 |
Asylum | 6:45 |
Dreamer | 3:31 |
Rudy | 7:17 |
If Everyone Was Listening | 4:04 |
Crime Of The Century | 5:36 |
28. Mai 2018 um 7:21 Uhr
Was soll ich sagen? Ich hatte die Platte auch. Allerdings sind die Songs lange schon in Vergessenheit geraten: Danke fürs Erinnern!
28. Mai 2018 um 7:34 Uhr
Der Erinnerungsautomat sagt “Bitte, gerne!”… 😊😉
28. Mai 2018 um 7:40 Uhr
Auch hier mein fröhliches: Ach, hab ich die geliebt. Allerdings lange nicht mehr gehört, bis auf “Dreamer”, was ziemlich regelmäßig im Radio läuft … “Breakfast in America” hatte ich auch, glaube ich, aber die hier ist unerreicht.
Danke! 😀
Liebe Grüße
Christiane
28. Mai 2018 um 9:35 Uhr
Super gerne! 🙂
Ich musste auch schwanken zwischen “Breakfast in America” und “Crime Of The Century” und finde diese etwas facettenreicher und spannender.
Genieße es! 🙂
28. Mai 2018 um 7:46 Uhr
Ach, und an das “Lied vom Tod” habe ich bei “School” auch immer gedacht … 😉
28. Mai 2018 um 9:36 Uhr
Gehört aber nie bestätigt…;)
28. Mai 2018 um 7:54 Uhr
Eine meine all-time-favs. Die erste selbst gekaufte Scheibe war allerdings Breakfast in America – Geheimtipp des Bruders der Tochter des besten Freundes meines Dads 😉 – und damit war es um mich geschehen. Crime of the century – was für ein Album. Toller Beitrag herzlichen Dank – gehe jetzt Mukke hören. Als allererstes Bloddy well right !!! Sonnige Grüße aus Berlin, Bri
28. Mai 2018 um 9:39 Uhr
Winke winke in die Hauptstadt! 🙂
Ja, Breakfast in America ist sicherlich der einfachere Einstieg (bei mir auch, mit Ausnahme von Dreamer). Ich finde generell alle Alben zwischen 1974 und 1982 (wobei Famous Last Words von ’82 nur noch mit Abstrichen) sehr gut sind und ihre Höhepunkte haben (Soapbox Opera, Fools Overture, etc.). Supertramp sind weitaus mehr als die Nudeln Dreamer, Give A Little Bit, It’s raining again… 🙂
Sehr zu empfehlen ist übrigens das Live-Doppelalbum “Paris” von 1980…Eigentlich die heimliche Best of in sehr guter Qualität! 🙂
29. Mai 2018 um 6:23 Uhr
Ö, nö. “Paris” würde ich nicht empfehlen. Ende der 70er ging live eigentlich mehr: Dynamischeres Spiel, Soli, Massenchöre, interessante lange Zwischenansagen mit Erklärungen zur Songerschaffung. Alles Fehlanzeige hier. “Paris” klingt wie eine statische Best of mit bissl Applaus in den Leerrillen zwischen den Songs.
“Alchemy” von den Dire Straits und “absolutely live” von Onkel Rod the Mod weisen da den Weg. Und wir Ossis kennen sowieso “Omega live”(Kisstadion Budapest ’79) Die hatten damals einen sehr ähnlichen Sound und die zeigten: SO geht LIVE!
29. Mai 2018 um 7:19 Uhr
Ich finde die Aufnahme- und Spielqualität der Band für die Zeit wirklich gut… Und das Supertramp nicht gerade ein argentinisches Fußballspiel mit Bengalos und Dauerchants sind, geschenkt… 😉😜. Aber danke für die Tipps… 😊
29. Mai 2018 um 20:40 Uhr
Bengalos! Und Ole-oleee-oleee-oleee Chöre! Genau das fehlt auf “Paris”. 🙁 NICHT!
29. Mai 2018 um 21:35 Uhr
😉😉😉
28. Mai 2018 um 8:47 Uhr
Rate, was ich heute Abend hören werde???? 🙂
28. Mai 2018 um 13:13 Uhr
Hehe, was ganz, ganz schönes! 😊🍀👌
28. Mai 2018 um 14:56 Uhr
Jau. Applaus! Aber meine Lieblingsplatte von denen ist die quietest Moments mit “give a little bit”. Vom Crime gefiel mir zu Schulzeiten eigentlich nur School. Da fiel der Groschen der Erkenntnis bei mir etwas langsam. Die Breakfast ist eigentlich sehr gut – aber die wurde in der beginnenden Formatradiodauerrotationszeit ziemlich totgedudelt. Zeitgleich mit Manfred Manns Earhtbands “Davy’s on the road again” und “Mighty Quinn”. “Logical” brauch ich seither bis heute nicht wieder. “Lord is it mine” aber ist heute noch fein, weil damals seltener gelaufen.
28. Mai 2018 um 15:13 Uhr
Jetzt veralberst du mich! Even in the quitest moments?? Really? Ich habe alle Alben zwischen 1974 und 1982 die Tage nochmal durchgehört und hätte bei dir NIE NIE NIE dieses Album vermutet.
Wie Name und Cover schon anmuten eher eine gesetztere Platte und sicherlich die Transitphase zwischen Prog und Pop. Fool’s Overture liebe ich, Give a little bit ist für mich der Inbegriff des “Totdudelns”…;)
Für mich als Album eher an Position #4 (nach Crime, Breakfast und Crisis), aber dennoch sehr gut…:)
Bin aber sonnig gelaunt, wenn wir auch mal nen gemeinsamen Nenner finden…Hätte ich bei Supertramp jetzt nicht gedacht…:D