1979. Ein wunderbares Jahr. So wunderbar, dass ihm die Smashing Pumpkins einen Song widmen. Im Jahr 1979 sind eine Vielzahl wundervoller Dinge geschehen. Unter anderem ich. Darüber hinaus ein Album, welches kurz vor Ende des Jahrzehnts die Musikgeschichte neu schreibt. Ein Jahrzehnt geprägt von Disco, Schlager, Pop und progressiver Rockmusik. Zwei Jahre zuvor erhebt sich aus dem britischen Underground eine Bewegung, die sämtlichen Hochglanz und Hedonismus des Zeitgeistes die Faust zeigt. Die Sex Pistols rufen die “Anarchie in Großbritannien” aus und etablieren mit ihrem Debütalbum den Punk als Jugend- und Protestbewegung. Das exzessive Treiben der Band dauert genau ein Jahr, bis deren Existenz in Trümmern liegt. Die Revolution frisst ihre Kinder. Zeitgleich perfektioniert in London eine junge Band die Weiterentwicklung der Gesinnung und schafft mit einem Doppelalbum ein Jahrhundertwerk. Während ich meine ersten Versuche unternehme, mich an Möbelstücken hochzuziehen. The Clash. London Calling.
Disziplin
Zeitgleich mit den Sex Pistols, veröffentlichen The Clash 1977 ihr gleichnamiges Debütalbum. Punk ist die neue Provokation im Musikgeschäft. Die Plattenfirmen ziehen junge Bands aus britischen Kellern, während The Clash schmutzig produzierten, geradlinigen Punk spielen. Auf der Welle des Genres erspielen sich Joe Strummer (Gesang, Gitarre), Mick Jones (Gesang, Gitarre), Paul Simonon (Bass) und Topper Headon (Drums) eine beachtliche Fangemeinde in Großbritannien. Während die Sex Pistols nach einem Album (physisch und psychisch) am Ende sind, testen The Clash 1978 auf ihrem zweiten Album, Give ‘Em Enough Rope, Genregrenzen. Die Produktion ist glatter und Einflüsse anderer Musikrichtungen streifen die Songs der Londoner. Ein Jahr später reisen The Clash nach Amerika und touren im Sommer mit Rhythm & Blues-Größen, wie Bo Diddley und Screamin’ Jay Hawkins. Diese Einflüsse saugen sie auf und begeben sich nach ihrer Rückkehr an die Aufnahmen zu ihrem dritten Studioalbum London Calling.
Zu Beginn der Aufnahmen leiden die hauptverantwortlichen Songwriter Jones und Strummer an einer Schreibblockade. Kein einziger neuer Song ist fertig, keine Riffs, keine Ideen. Die Band bezieht ein kleines Aufnahmestudio mitten in London und beginnt Coversongs aus verschiedenen Musikrichtungen zu spielen. Der amerikanische Einfluss der letzten Monate gibt den Ton an: Rockabilly, Rock ‘n’ Roll, Rhythm & Blues und Reggae stehen auf dem Programm. Die Proben finden unter Ausschluss von Freunden und Bekannten statt, um sich vor schlechten Einflüssen und Meinungen bezüglich der musikalischen Entwicklung zu schützen. Dazu gesellt sich ein straffer, disziplinierter Tagesplan, bestehend aus Proben am Mittag, einem kleinen Fußballspiel am Nachmittag, danach ein paar Bier im Pub und die zweiten Proben am Abend.
“Cause London is drowning and I, I live by the river”
Die Punkband lebt ihr eigenes Paradoxon und findet neues musikalisches Selbstvertrauen in der Disziplin. Sie experimentieren mit diversen Genres und ergänzen ihre ursprüngliche musikalische DNA. Jones komponiert während Strummer die Texte schreibt. Den größten Einfluss auf London Calling verübt Drummer Topper Headon, der seine Fähigkeiten an den Drums entfaltet und mühelos das Fundament legt, um die klassische Songstruktur des Punks zu verlassen. Am Ende stehen 18 Songs, die den Hörer auf einen Ritt durch verschiedenste Stile mitnimmt. Dabei schaffen es The Clash, nie ihre Attitüde des Underdogs zu verlieren. Auch das Auftreten der Band und das Artwork des Albums liefern zahlreiche Reminiszenzen an die amerikanische Musik- und Jugendkultur. Strummer trägt die typische Rock ‘n’ Roller-Frisur, Simonon kleidet sich in Jeans wie James Dean und die Schrift auf dem Albumcover stammt in Farbe und Form vom selbstbetiteltem Debütalbum Elvis Presleys.
London Calling erscheint am 14. Dezember 1979 und erreicht im selben Monat in Großbritannien Goldstatus. Zum ersten Mal erreichen The Clash außerhalb des Königreichs eine hohe Beachtung. Das Doppelalbum wird in den USA ein großer Erfolg und gilt schnell als Referenzwerk für das kommende Jahrzehnt. Kein Kritiker, der das Album aufgrund seiner Abwechslung, seiner Vielfalt, seiner guten Laune und seiner Energie nicht unter die zehn besten Alben aller Zeiten wählt. Der Titelsong prägt eine Ära der Rockmusik und ist für mich die inoffizielle Nationalhymne Englands. Kein Song, der dermaßen ein Lebensgefühl, eine Attitüde, ja, eine lokale Atmosphäre einfängt wie London Calling. Ein Gitarrenriff für die Ewigkeit. Besonders gelungen finde ich die Verwendung des Songs in einer Szene des 2000 erschienenen britischen Films “Billy Elliot”.
Jahrhundertwerk
Brand New Cadillac ist Rock ‘n’ Roll in Reinform und nimmt Tempo auf. Jimmy Jazz ist wunderbar lässig und lässt den Hörer umgehend das Glas ergreifen. Das Album ist voll von stimmungsvollen Perlen, wie Hateful, Spanish Bombs, Wrong ‘Em Boyo oder Death Or Glory. Andere Songs sind ihrer Zeit voraus und dienen als Blaupause für die “Kinder der Revolution”: The Right Profile klingt wie Blur 15 Jahre, Lost In The Supermarket wie Bloc Party 25 Jahre später. The Guns Of Brixton, geschrieben und gesungen von Paul Simonon, schenkt uns einen Ohrwurm an Basslinie. London Calling ist eine perfekte musikalische Inszenierung der Vielfältigkeit und der Multikulturalität der englischen Hauptstadt. Ein Album, perfekt für die ersten lauen Abende im Park. Mit vielen guten Freunden und einer guten Zeit. Wie R.E.M.s Automatic For The People würde auch dieses Album jeden Abend in meiner Kneipe laufen.
Ich muss gestehen, zu diesem Album keine besondere, persönliche Geschichte zu haben. Höchstens, dass mein (ACHTUNG: Nerd) erster Charakter beim Pen & Paper-Rollenspiel in Ermangelung an Fantasy-Originalität “Clash” hieß. Das ist jetzt knapp 25 Jahre her. Ehrlich. Ich bin kein Freund von übermäßig langen Alben, da ich der Meinung bin, kein Song zu viel zu brauchen. Bei London Calling ist das anders. Das Album ist spannend, nie langweilig und macht unglaublich gute Laune. Wahrlich ein Jahrhundertwerk. The Clash haben trotz ihrer Wurzeln nie in Grenzen gedacht und immer versucht, ihre Musik weiterzuentwickeln. Das zeigen die Nachfolgealben Sandinista! (1980) und Combat Rock (1982). Nach sechs Alben ist 1986 Schluss. Ihr Einfluss auf die Rockmusik ist, ähnlich den Pixies, allgegenwärtig. Am 22. Dezember 2002 stirbt Joe Strummer im Alter von fünfzig Jahren an einem angeborenen Herzfehler. Die Beatsteaks widmen ihrer Ikone einen Song. Es gibt heute definitiv zu wenige Bands wie The Clash.
Unnützes Kneipenwissen I: Auf dem Cover ist Bassist Paul Simonon abgebildet, wie er bei einem Konzert in New York, in bester The Who-Manier, seinen Bass zertrümmert. Wie er selbst sagt, “aus Frust darüber, dass die Zuschauer auf dem Konzert nicht aufstehen durften”. Eingefangen wurde der Schnappschuss von der Fotografin Pennie Smith, die das Bild zuerst ablehnt. Strummer und Covergrafiker Ray Lowry können sie mit Engelszungen davon überzeugen, dass es ein gutes Plattencover ist. Der zertrümmerte Bass steht seit 2009 in der Rock ‘n’ Roll Hall of Fame in Cleveland. Das Bild von Pennie Smith wird 2002 vom Q Magazine zur “besten Rock ‘n’ Roll Aufnahme aller Zeiten” gekürt, da es perfekt einen zentralen Moment der Rockmusik verkörpert: Den totalen Verlust von Kontrolle.
Unnützes Kneipenwissen II: Track 19, Train In Vain, ist auf den ersten Platten nicht auf dem Cover vermerkt. Ursprünglich wollte die Plattenfirma den Song als Promotion veröffentlichen und einer Musikzeitschrift beilegen. Der Deal platzte, der Song musste nachträglich auf die Platte. Um das zu ermöglichen, wurde er in den Auslaufbereich der Plattennadel gepresst.
… sag bloß …
Unnützes Kneipenwissen III: Joe Strummer wurde als Kind eines britischen Diplomaten in Ankara, Türkei geboren und verbrachte einige Jahre seiner Kindheit in Bonn.
Unnützes Kneipenwissen IV: Am Ende des Titeltracks imitiert Mick Jones ein Morsezeichen mit seiner Gitarre. Passend zur apokalyptischen Thematik des Textes stehen diese für den Hilferuf “SOS”.
Anspieltipps: London Calling, Train In Vain, Brand New Cadillac, Hateful, The Guns Of Brixton, Lost In The Supermarket
Wenn euch die Sahneplatte gefällt, schaut doch in der Plattenkiste vorbei. Da gibt es noch weitere hervorragende Alben und spannende Geschichten.
The Clash – London Calling
Genre: | Rock |
Stil: | Punk Rock, Post Punk, Reggae, Jazz Fusion |
Jahr: | 1979 |
Anzahl Titel: | 19 |
Laufzeit: | 65:07 |
Tracklist
London Calling | 3:19 |
Brand New Cadillac | 2:09 |
Jimmy Jazz | 3:52 |
Hateful | 2:45 |
Rudie Can't Fail | 3:26 |
Spanish Bombs | 3:19 |
The Right Profile | 3:56 |
Lost in the Supermarket | 3:47 |
Clampdown | 3:49 |
The Guns of Brixton | 3:07 |
Wrong 'Em Boyo | 3:10 |
Death or Glory | 3:55 |
Koka Kola | 1:46 |
The Card Cheat | 3:51 |
Lover's Rock | 4:01 |
Four Horsemen | 2:56 |
I'm Not Down | 3:00 |
Revolution Rock | 5:37 |
Train in Vain | 3:09 |
16. April 2018 um 7:43 Uhr
19 Tracks und über eine Stunde Laufzeit? Die Herren wussten noch, was sich gehört. 🙂 Zwar ist mehr nicht automatisch auch immer besser, aber wenn ich so an die Punkbands denke, die ich in den 90ern gehört habe – “Lag Wagon”, No Use for a Name” usw. und an deren Albumlängen, dann sind die Unterschiede erheblich. Beispielsweise das von mir erst kürzlich wieder mal gehörte “Double Plaidinum” von “Lag Wagon”: 12 Tracks, nur einer länger als drei Minuten, Spielzeit knapp über 30 Minuten. Und die beiden ersten sind die besten, so dass man das Hören eigentlich schon nach 3 Minuten und 4 Sekunden einstellen kann. Das empfand ich damals immer schon als eine Frechheit … 🙂
Und: “Clash” als Charaktername? Da geht irgendwie die Immersion flöten … 😉 Allerdings ist “Clash” immer noch besser als die Angewohnheit eines Kumpels, einen Charakter in PC-Rollenspielen immer “Buttermilch” zu nennen. XD
16. April 2018 um 9:11 Uhr
Haha… 🤣. Meine mangelnde Originalität ist mir heute als Texter zu spät sogar etwas peinlich… Deswegen erzähl ich es ja… 😉
Ja, Lagwagon waren noch “Angry Days”… 😊… Kannste mit The Clash echt nicht vergleichen… Vielleicht ist hier das Label “Punk” auch nicht ganz zutreffend oder missverständlich. Definitiv soll es nicht abschrecken, reinzuhören… ☝️
16. April 2018 um 16:47 Uhr
The Clash waren schon eine Klasse für sich.
16. April 2018 um 16:51 Uhr
Mir fällt auch nichts vergleichbares ein… 🤔
17. April 2018 um 14:15 Uhr
Kann ich Euch nur Recht geben 😉
17. April 2018 um 16:07 Uhr
Komm rein, setz dich, nimm dir nen Keks… 😊
17. April 2018 um 19:02 Uhr
Okay, mache ich 🙂
17. April 2018 um 16:05 Uhr
Danke, dass du beim SOS Hinweis in Kneipenwissen IV auf einen weiteren Abba-Bezug verzichtet hast. 🙂
1979 ein gutes Jahr? Neeeeiiiin! Da musste ich zur Fahne. Außerdem bordete die ganze Discosülze derart über. Es gab praktisch keine guten Musiksendungen mehr. Stgt Pepper (Discoversion mit Bee Gees und Aerosmith, Greese mit Travolta; Ohrenfolter a la Diddie Hallervorden und Helga Feddersen “Du die Wanne ist voll”, gefolgt von Karl Dall, der Luv coverte “He hallo ich bin der schönste Mann hier”; 79, also da war doch nur Gülle! “London calling” hörte ich 1980 auf Kurzurlaub von der Fahne im Radio.)
Heißt die Zeile wirklich “London ist drowning”? Ich versteh da immer “burning” – deshalb macht dann der Nachsatz “I live by the river” auch wirklich mehr Sinn.
17. April 2018 um 16:12 Uhr
Haha, erinnert mich an meinen Englischlehrer der immer meckerte “Ich weiß gar nicht was alle am Summer of 69 so toll fanden, da war ich beim Bund”… 🤣
Wir verzichteten darauf ihn aufzuklären, 69 und so…
Aerosmith? Echt? Du machst Witze… “Die Wanne ist voll” ist natürlich grandios… Kaum zu glauben, dass Helga Feddersen mal Schönheitskönigin war, dann kam ihre Krankheit (oder wars ein Unfall? 🤔)…
Über Abba schreibe ich für dich nochmal exklusiv… Die haben in meinem Geburtsjahr bestimmt auch was gemacht… 🤣😉
14. Mai 2018 um 20:47 Uhr
Wie gut, dass du mir noch so viel beibringst.
Ich muss (mal wieder) gestehen, dass ich tatsächlich nur den namengebenden Song kenne. Und den auch nur, weil er in der Serie Friends verwurstet wurde – die nun mal zu meiner Religion gehört. Jetzt habe ich aber total Lust mal in den Rest der Platte reinzuhören, was ich auch tun werde …
(1979 auch ein sehr toller Song – und der einzige den ich von den Smashing Pumpkins kenne. Ich bin so ein Maxi-Single-Hörer. Jeez!)
14. Mai 2018 um 21:02 Uhr
Sie hat Maxi-Single gesagt!!! ❤️❤️❤️… Wer kennt denn heute noch 33er Singles? Ganz toll liebe Cathy… Aber mal in medias res… DIE MUSST DU HÖREN!! London Calling ist die Blaupause für sämtliche Alternative Rock Musik ab 1980… Du kannst zum Beispiel keine Beatsteaks hören ohne London Calling… Dat gibbet nich… Bitte, bitte, ich schenk dir auch den Tonträger deiner Wahl… ❤️🍀😜
16. Mai 2018 um 5:42 Uhr
Ehm … *räuspert sich laut und umständlich während sie nach 33er-Singles recherchiert* … puh, also so sehr Musikfan bin ich dann ja (leider) doch nicht. Ich meinte diese kompakte Scheibe aus Kunststoff.
Egal.
Ich höre auf jeden Fall noch rein! Vor allem wenn Beatsteaks ohne nicht geht. Weil ohne Beatsteaks geht nicht. 😉
16. Mai 2018 um 8:33 Uhr
Gute Gleichung! 😊😊