Es gibt Menschen, von denen nehme ich Begeisterung für eine Sache mit. Wenn jemand Leidenschaft für etwas entwickelt, finde ich das spannend. Ganz gleich, ob ich mich mit der Sache beschäftige oder sie gut finde. Ich finde Leidenschaft spannend. Das war früher schon so, genau wie es mich heute fasziniert. Außerdem tendiere ich dazu, Menschen mit gewissen Dingen oder Situationen zu assoziieren. Auch wenn das für den Betroffenen komisch oder nicht direkt nachvollziehbar erscheint. Meine Leidenschaft zu Hip-Hop ist nicht natürlich gewachsen. Da mussten erst bestimmte Menschen kommen und mir zeigen, was Sprechgesang so besonders macht. Denke ich an die Sahneplatte von heute, verknüpfe ich umgehend folgende Bilder meiner Jugend: Tiefste 90er, Zimmer voller Leute im Keller und überquellende Aschenbecher, deren Inhalt, mangels Lust an einer Entleerung, entsorgt in ausgetrunkene Bierflaschen. Irgendwie das genaue Gegenteil meiner eigentlichen Jugend. Ebenso wie Hip-Hop. Die Fantastischen Vier. Lauschgift.
“Deesch is’ Rap!”
Als sich Mitte der 80er-Jahre das Terminal Team zusammenfindet, ist Rapmusik in Deutschland nicht mehr als eine Randerscheinung. Eigentlich nicht existent. Ein paar amerikanische Pioniere finden hierzulande Gehör, gelten allerdings als Nischenkunst. Das Terminal Team besteht aus den Schülern Michael Schmidt und Andreas Rieke, die ihre Freizeit mit Computerprogrammierung verbringen und Hip-Hop-Samples basteln. Da es in der Szene üblich ist, sich Pseudonyme zuzulegen, ziehen Schmidt und Rieke mit und nennen sich “Smudo” und “And.Ypsilon”. 1989 stoßen die Freunde Thomas Dürr (“Thomas D”) und Michael Beck (“Dee Jot Hausmarke”) zum Terminal Team, teilen die Leidenschaft zur Rapmusik und komplettieren das Quartett.
Problem: Die englischen Raps der vier Schwaben klingen wenig bis gar nicht authentisch. Auf den kleinen Konzerten ist ihnen ein Schmunzeln der (wenigen) Zuhörer stets gewiss. Obwohl ihre Bühnenperformance in der kleinen Nische gut ankommt. Nachdem Schmidt und Dürr mehrere Monate in den USA verbringen und die dortige Rapszene erforschen, schmieden sie einen Plan und betreten, zurück in der Heimat, Neuland. Sie ändern den Namen des Terminal Teams in Die Fantastische Vier und schreiben ab sofort deutsche Texte.
“Platten kratzen”
Zu jener Zeit ist deutschsprachige Rapmusik nicht vorhanden. Sieht man von den Pionieren Advanced Chemistry aus Heidelberg und einigen kleineren Projekten ab. Die Fantastischen Vier transformieren fortan konsequent alles Englische ins Deutsche und leisten somit wichtige Aufbauarbeit:
„Ab diesem Moment übersetzten wir alles. Wirklich alles. Wir sagten nicht mehr „scratchen“, sondern „Platten kratzen“. Unsere Musik hieß natürlich nicht mehr Rap, sondern Sprechgesang. Es war eine Mission. Es diente unserer Selbstfindung.“ – Smudo
1991 erscheint ihr Debütalbum Jetzt Geht’s Ab und verschafft der Gruppe Aufmerksamkeit. Allerdings hinterlässt der neue, deutsche Sprechgesang Stirnrunzeln. Darf die Kritik das gut finden? Bevor die Frage ausdiskutiert ist, erscheint ein Jahr später das Nachfolgealbum 4 Gewinnt.
Darauf befindet sich ein Song, der Die Fantastischen Vier und mit ihnen ein ganzes Musikgenre über Nacht schlagartig bekannt macht. Die Da !?! geht auf Platz #2 in den deutschen Charts und schafft es bis in die Hitparade im ZDF. Hip-Hop, anmoderiert von Dieter Thomas Heck. Diese Kontroverse lässt die Band lange Zeit nicht los.
“Wie die anderen … die anderen … wie ihr”
Ihr zweites Album ist, dank Die Da !?!, das meistverkaufte in der bis heute währenden Bandgeschichte. Diese ergänzt sich 1993 um das dritte Album Die 4. Dimension, welches mit der “Musik der Stunde” bricht und sich um psychedelische Elemente weiterentwickelt. Nach dem Crossover-Nebenprojekt Megavier, atmen Die Fantastischen Vier durch. Das vierte Album versteht die Band als Statement. Mitte der 90er-Jahre ist deutscher Hip-Hop in der Mitte der Gesellschaft angekommen und aufstrebende Bands wie Fettes Brot, Fischmob oder Blumentopf erscheinen mit ihren vielbeachteten Debüts auf der Bildfläche. Mit dem Rödelheim Hartreim Projekt um Moses Pelham liefern sich Die Fantastischen Vier den ersten innerdeutschen “Diss”, der Aufmerksamkeit erregt. Im September 1995 erscheint das neue Album Lauschgift. Es ist der kreative Höhepunkt der Band und das letzte Album, dass nicht vor technischem Hochglanz strotzt. Mit Populär beginnt das Album direkt mit dem Straßenfeger. Jump Around und Insane In The Brain lassen grüßen.
Sie Ist Weg ruft sofort die 90er zurück ins Hirn und steht für so vieles aus der damaligen Zeit: Daily Soaps, G-Funk, BRAVO Hits. Bis heute kommen Menschen meiner Generation nicht umhin, dass Satzfragment “Sie ist Weg” mit der Ergänzung ” … Und ich bin wieder allein, allein” zu vollenden. Im Gegensatz zu den Albernheiten der Vorgängeralben, gibt sich Lauschgift ernst, angriffslustig und gar leicht aggressiv. In Was Geht knöpfen sich die Vier das Rödelheim Hartreim Projekt vor, obgleich sich der Song zum tongewordenen Startschuss entwickelt. Locker Bleiben, mit seinem gipfelnden Mantra des “Hab-dich-nicht-so”, ist für mich einer der besten deutsche Hip-Hop-Tracks überhaupt. Krieger, Konsum und Michi Gegen Die Gesellschaft schlagen kritische und nachdenkliche Töne an. Die Interludes lockern das Album auf und zeigen mit Wie Die Anderen gar Ohrwurmqualität. Lediglich Brems 2000 lässt mich bis heute die Stirn runzeln und erkämpft sich seine Akzeptanz als überdrehte Techno-Persiflage.
Was ist mein Naturell?
Auch wenn der funky Boom Bap auf Lauschgift zumeist schamlos den ’92er Sound aus Übersee kopiert, funktioniert er in deutscher Sprache erstaunlich gut. Populär, Was Geht, Locker Bleiben und, auch irgendwo, Sie Ist Weg sind Meilensteine meiner Jugend. Ohne verdienter Hip-Hop-Fan gewesen zu sein. Die Fantastischen Vier in den Videos von damals zu betrachten, gleicht einer Zeitreise. Junge Männer, die was zu sagen hatten. Mit Lauschgift kam die Etablierung, die bis heute anhält. Und Etablierung bedeutet immer ein Stück weit Kreativitäts- und Aggressionsverlust. Nach dem Nachfolgealbum 4:99 sind Die Fantastischen Vier für mich zum “Grundrauschen” verkommen. Sie tun nicht weh, aber sie motivieren auch nicht mehr. Deutscher Hip-Hop verkommt mehr und mehr zum Politikum und zur Aufmerksamkeitshascherei. Ich verspüre keine Lust, die aktuell geführte Diskussion hier herein zu tragen.
Trotz anfänglichen Schwierigkeiten und Ablehnung, trauere ich manchmal dem deutschen Hip-Hop der 90er hinterher. Fettes Brot, Fischmob, Eins Zwo, Fünf Sterne Deluxe. Es war irgendwie lustig. Und unschuldig. Es heißt, die Jugend ist zum Ausprobieren. Dann sitzt du plötzlich im Zimmer eines Menschen, mit dem du eigentlich nicht viel gemein hast. In einer Szenerie, die nicht deinem Naturell entspricht. Dennoch bleibt der Moment hängen und du verbindest etwas Peripheres, wie Musik, mit diesem Augenblick. Viele Jahre später gräbst du diesen Eindruck wieder hervor und fühlst dich mittendrin. Irgendwie deplatziert, aber dennoch richtig. Vielleicht ist dies die Geschichte von mir und einer Person. Vielleicht ist es aber auch die Geschichte von mir und deutschem Hip-Hop.
Unnützes Kneipenwissen I: Das Intro auf Lauschgift stammt von einem 17-sekündigem Ausschnitt des Spielfilms Frühstück bei Tiffany aus dem Jahre 1961.
Unnützes Kneipenwissen II: Das Schlusssample Albert in und die Philosophie ist ein Auszug aus Albert Einsteins Glaubensbekenntnis, gesprochen 1932 auf Schallplatte.
… “ÜBERALL LAUSCHGIFT!” …
Unnützes Kneipenwissen III: Sie Ist Weg ist bis heute der einzige Song der Fantastischen Vier, der Platz #1 der deutschen Charts erreichte.
Anspieltipps: Was Geht, Populär, Locker Bleiben, Wie Die Anderen
Wenn euch die Sahneplatte gefällt, schaut doch in der Plattenkiste vorbei. Da gibt es noch weitere hervorragende Alben und spannende Geschichten.
Die Fantastischen Vier – Lauschgift
Genre: | Hip-Hop |
Stil: | Hip-Hop, Boom Bap |
Jahr: | 1995 |
Anzahl Titel: | 20 |
Laufzeit: | 56:04 |
Tracklist
Lauschgift | 0:17 |
Populär | 3:28 |
Sie ist weg | 3:52 |
Frühstück | 0:39 |
Was geht | 3:57 |
Nur in deinem Kopf | 3:42 |
Tokio - Paris | 0:23 |
Die Geschichte des O | 4:00 |
Ich Bin | 1:48 |
Hey Baby | 0:39 |
Michi gegen die Gesellschaft | 4:52 |
Brems 2000 | 2:56 |
Thomas und die Philosophie | 4:39 |
On The Next Album | 0:48 |
Locker bleiben | 3:10 |
Love Sucks | 4:20 |
Wie die Anderen | 0:51 |
Konsum | 4:30 |
Krieger | 6:37 |
Albert und die Philosophie | 0:32 |
20. August 2018 um 6:21 Uhr
Schmunzel…meine anfänglichen Schwierigkeiten im Ländle heimisch zu werden, beantwoetete mein Neffe :aber da gibts Fanta 4 …kann so schlecht nicht sein…;)
20. August 2018 um 8:18 Uhr
Hey Tixi, freut mich sehr, dass es dir gefällt. 🙂
Mach dir einen schönen Tag und spendier deinem Neffen mal wieder ein Eis … 🙂
21. August 2018 um 15:15 Uhr
lächel
mein kleiner Neffe ist ca 2 mund mittlerweile über 40, nach schwäbischer Sicht also weise…
😉
22. August 2018 um 8:45 Uhr
Haha, fantastisch! Dann sollte immer genug im Kühlschrank sein… 😉😋
20. August 2018 um 7:04 Uhr
Schööön! Dein Post hat mir den Montagmorgen gerettet und mich auch wieder ein Stück in die 90er katapultiert.
Danke:)
20. August 2018 um 8:23 Uhr
Hallo Isabel, es ist mir ein Vergnügen ;). Mach ich doch gerne.
Wenn du noch nen Schmunzel-Ohrwurm von den Fantas gratis dazu haben magst, empfehle ich dir “Eins und Eins (Wasserbett)”, ne B-Seite von der (indizierten) Platte “Frohes Fest”. Ja, so waren die Anfangstage … :D. Die Ärzte gab’s damals nicht (mehr), da musste es einer tun… 😛
Hab nen traumhaften Tag! 😉
20. August 2018 um 7:09 Uhr
Angesichts des 70. Geburtstags von Robert Plant hätte ich heute mit “Led Zeppelin” gerechnet. 😉 Aber deutscher Hip-Hop ist – für die, die ihn mögen – auch okay. 🙂 Ich gehöre nicht unbedingt dazu. Aber “Megavier” war geil! 🙂 Trotzdem kenne ich von den erwähnten Tracks erstaunlich viele. Man konnte diesen vier Herren in den 90ern aber auch kaum entkommen.
20. August 2018 um 8:30 Uhr
Liebe/r fraggle, ich bin doch immer etweas antizyklisch unterwegs … 😉 Und wenn, dann hätte ich ein Double Feature aus Led Zeppelin und Madonna machen müssen. Und vergiss mir Aretha nicht! Zu deren Tod habe ich auf meinem Facebook- und Instagram-Account ein persönliches Gedankenfragment geschrieben. Schau es dir gerne an (@textmarka). 🙂
Ja, “Megavier” war schon was. Stets zwischen Klamauk und irgendwie geil. Meine Frau besaß, als wir uns kennenlernten, ein Longsleeve der Megavier. Die CD steht auch noch eingereiht in der Sammlung. Hach.
Was die Dookie für Green Day, ist Lauschgift nun mal für die Fantas. Du kamst nicht daran vorbei, egal was du gerne gehört hast. Nur “Sie ist Weg” war für mich immer schwierig, da für mich ein doch sehr starkes Zugeständnis an die BRAVO (ähnlich Die Da !?!, aber da war ich 13 und desorientiert ;)). Aber die Platte ist von hinten bis vorne rund, energiegeladen und irgendwie sehr authentisch. Deutsche Sprache ist gar nicht so uncool … 🙂
20. August 2018 um 16:38 Uhr
Ja und nein zu deutschem Rap. Die Fantas wollte ich einige Male gut finden: Sie ist weg; MfG, geboren, Solotracks von Smudo und Thomas D, deren Titel ich vergessen habe, Lektionen in Demut (das leider eben doch verunglückte Öko-Album) … ich halt’das Plattenweise nicht durch. Nach dem 2.Track setzt Frust ein. Wird nie “meins”. So isses halt.
Irgendwie gallig witzig ist, dass deine treffende Bemerkung vom “etabliert sein kostet Kreativität und Aggressionsverlust” so sehr passgenau stimmt. Siehe letztes Fanta-Album:- die Fantas kommen genau da an, wo die Toten Hosen schon sind: Sozialkundelehrer Mugge. Betroffenheitsgereime ohne Esprit. Man kann gerne gegen AfD und für Flüchtlinge sein, aber das entbindet eigentlich nicht davon niveauvolle Texteinfälle zum Thema haben zu müssen. Die NDW hat seinerzeit die kommende Öko-Katastrophe weit besser verarbeitet, als die heutigen Barden die Flüchtlingskrise.
20. August 2018 um 16:44 Uhr
Du hast Hashtag-Barden vergessen … wegen #zsmmn und so … Es ist alles ein Graus, dass sich Menschen nicht mal zurücklehnen und Erreichtes genießen können. Zu oft reißt der Arsch leider alles ein, nun ja.
Irgendwie ist es putzig und bemitleidenswert zugleich, möchte ich mit Mitte 50 (und monetär etabliert) noch so bissig und originell wie Mitte 20 sein. Warum nicht einfach mal über den Dingen stehen … mit Stil?
1. September 2018 um 16:35 Uhr
So viel kann ich mit denen ja irgendwie nicht anfangen. Das einzige Lied, das ich immer wieder gerne höre und von Anfang bis Ende mitsinge, ist Troy. Aber das darf man wahrscheinlich gar nicht sagen, ohne verachtende Blicke zu ernten. Egal, mein Zeitreise-Song in einen wunderbaren Sommer irgendwo in den 2000ern.
Wie dem auch sei, toller Artikel. Wie immer, auch wenn man die Band oder Platte gar nicht mag. Ich glaube das ist die Leidenschaft … 😉
1. September 2018 um 16:41 Uhr
Ja, das stimmt. Leidenschaft. Für mich halt ein ganz typisches 90er Jahre Polaroid ohne zu sehr an Musik, mehr an Situationen und Momente zu denken. Kribbelig… 😊
1. September 2018 um 16:56 Uhr
Ich überlege gerade angestrengt, was das bei mir ist, aber ich glaube das war noch einen Hauch zu früh. Musik-Polaroids zu sammeln fing erst im darauffolgenden Jahrzehnt an, glaube ich.