Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang? Aufstehen oder Hinlegen? Wach oder müde? Es gibt Alben, da kann ich mich nicht entscheiden. In jedem Fall lösen sie eine absolute innere Ruhe in mir aus. Alles um mich herum öffnet sich und ich liege in einem großen, leeren Raum. Ausschließlich umgeben von Klang. Den eigenen Bewegungsdrang wie mit einem Lichtschalter ausgeklickt. Es entsteht ein intimer Moment, den ich ungern teile. Ganz wenige Bands schaffen es, mich in eine solche Situation zu versetzen. Eine Situation, in der ich nicht mehr brauche als den reinen Klang. Die Melodie. Den Rhythmus. Und eine Stimme. Der klassische Bariton von Matt Berninger schafft das. Hinter ihm stehen, leise und verstohlen, zwei Brüderpaare und versetzen mich zehn Zentimeter über den Boden. Während ich ganz ruhig daliege. The National verzaubern. Trouble Will Find Me.

Glücksfall

Cincinnati, Ohio gilt nicht unbedingt als Hotspot für Musik oder Trends. Immerhin hat Cincinnati ein College, an dem sich 1991 die Grafikstudenten Matt Berninger (Gesang) und Scott Devendorf (Bass) treffen. In den frühen 90er-Jahren ist die Musikszene in Ohio überschaubar. Mit drei weiteren Freunden starten sie eine Band. Sie nennen sie nach Berningers Mutter. Nancy. Sie spielen Songs von Pavement und streben nach einem unverfälschtem Lo-Fi-Sound, der erst zehn Jahre später in New York seinen Durchbruch findet. Dank Bands wie The Strokes. Nancy existieren fünf Jahre und veröffentlichen ein Album. Die Band trennt sich, als es einige Mitglieder, darunter Berninger und Devendorf, nach Brooklyn zieht. Auf Ausschau nach neuen Möglichkeiten eine Band zu gründen, tritt Scott Devendorf an seinen Bruder Bryan. Der Schlagzeuger hat Kontakte zu einem Zwillingspaar, Aaron und Bryce Dessner, welche den Gedanken eine Band zu gründen teilen.

Beide spielen mehrere Instrumente und bringen zudem Erfahrung im Komponieren und Songwriting mit. Das Quintett, bestehend aus zwei Brüderpaaren und Berninger, ist komplett. Sie nennen sich The National, noch bevor der “The-Namenshype” die Welt erobert. Zwei Jahre nach ihrer Gründung 1999 erscheint ihr erstes, selbstbetiteltes Album, The National. Mangels Plattenfirma gründen die Brüder Dessner kurzerhand ihr eigenes Label, Brassland Records. Das Album erreicht kleine Verkaufszahlen und erste, beachtenswerte Kritiken. Das Nachfolgealbum Sad Songs For Dirty Lovers erscheint 2003 und verschafft erste Aufmerksamkeit in überregionalen Publikationen. In der Folge unterzeichnen The National einen Plattenvertrag beim Indielabel Beggars Banquet Records. Für die Band wird es zu umfangreich, weiterhin ein eigenes Label zu unterhalten. Sie kündigen ihre Jobs und verschreiben sich komplett ihrer Musik. Ein Glücksfall.

Augen zu, Augen auf

Ihr drittes Album, Alligator, veröffentlichen The National 2006 und erklimmen die nächste Sprosse auf der Leiter nach oben. Landesweite Medien zollen Tribut vor den intelligenten und emotionalen Melodien. Die Verkaufszahlen erreichen erstmals den sechsstelligen Bereich. Nach zwei weiteren Alben, Boxer (2007) und High Violet (2010) erreichen The National den Sonnenplatz des Indiegenres. Kritiker überschlagen sich. Von Ohio in die weite Welt. Nachdem Beggars Banquet Records im neuen Label 4AD aufgeht, veröffentlichen The National ihr sechstes Studioalbum unter neuem Dach. High Violet öffnet die Tür weit, durch die Trouble Will Find Me 2013 hindurch schreitet. Und das mit breiter Brust und größtem Selbstvertrauen. Das Album ist mein persönlicher Höhepunkt in einer schwierigen Musikdekade.

Bereits der Opener, I Should Live in Salt, zieht den Hörer in der frühen Morgensonne auf einen lichtdurchfluteten Hügel. Zum Durchatmen. Demons ist die erste Singleauskopplung und pflanzt Berningers Bariton direkt in den Magen. Don’t Swallow The Cap, Fireproof und Sea Of Love sind emotionale, richtig große Songs. Zum Augen schließen und Augen aufreißen. Absolute Ohrwürmer, wunderschön in Komposition und Text. This Is The Last Time und Graceless sind meine persönlichen Lieblinge. Erzählen Geschichten, malen Bilder. Rufen Emotionen, schaffen Atmosphäre.

Der treibende Post-Punk-Rhythmus von Graceless spielt mühelos im obersten Regal von Interpol oder Editors. Die gezupfte Gitarre in I Need My Girl umarmt und setzt einen Bilderrahmen um die gesungenen Worte. Berninger spricht davon, dass die Band bei den Aufnahmen, zum ersten Mal in ihrer Geschichte, voller Überzeugung im Hinblick auf ihre Arbeit gewesen sei. Trouble Will Find Me transportiert diese Aussage mit jedem Ton. Ein Album voller Sicherheit und Klasse.

Viele Fragen, wenig Antworten

Ich liege da und höre Trouble Will Find Me. Keine Ahnung, was ich fühlen soll. Ob ich alleine bin oder nicht. Müde oder wach? Die Songs schaffen Raum, in den ich mich lege. Der Bariton von Matt Berninger ist Decke und Kissen. Die Melodien der Band eine weiche Matratze. Um mich herum ist es dunkel. Vielleicht aber auch gleißend hell. Das Album stellt mir viele Fragen. Ich kann die wenigsten beantworten. Ich weiß nur, dass ich die totale Ruhe finde. Und glücklich bin. Der gesamte Kosmos von The National, ist mit sieben Alben groß und weit. Alles was das Quintett aus Ohio bisher erschuf, ist es wert, sich damit umfangreich zu befassen. Eine der größten Bands und Lichtblick in einer grauen Epoche der Musik. Ich bin zutiefst dankbar um Trouble Will Find Me. Zeigt es mir doch Neues. Unbeantwortetes. Von mir.

Unnützes Kneipenwissen I: Die URL der Bandwebsite von The National lautet überraschenderweise americanmary.com. Die Domain stammt aus den Anfangstagen in den späten 90ern und ist zugleich der Name eines Songs aus ihrem ersten Album. Die Band hat sich, nach eigener Aussage, nie darum gekümmert, die Domain anzupassen. Suchmaschinenoptimierer zucken kollektiv zusammen.

Unnützes Kneipenwissen II: 2011 komponieren The National für die Serie Game Of Thrones das Stück The Rains Of Castamere. Gespielt wird dieser bei der “Roten Hochzeit” im Zuge des Verrats am Hause Stark.

… interessant …

Unnützes Kneipenwissen III: In den ersten vier Tagen der Aufnahmen zu Trouble Will Find Me kommt es in der Umgebung des Studios zu tornadoartigen Stürmen, welche zeitweise die Stromversorgung aussetzen. Nach Aussage von Aaron Dessner nutzen The National den Moment. Im Kerzenlicht, umgeben von totaler Dunkelheit, spielen sie angetrunken die Songs akustisch ein. “It was the kind of scene that has never happened in the history of our band — and will never happen again.”

Unnützes Kneipenwissen IV: Die Band ist bekannt für ihr hohes Engagement in politischen und sozialen Projekten. Regelmäßig unterstützen sie in den Vereinigten Staaten die demokratischen Präsidentschaftskandidaten und spielen Benefizkonzerte für wohltätige Zwecke.

 

Anspieltipps: Graceless, This Is The Last Time, Don’t Swallow The Cup, I Should Live in Salt, Sea Of Love

 


Wenn euch die Sahneplatte gefällt, schaut doch in der Plattenkiste vorbei. Da gibt es noch weitere hervorragende Alben und spannende Geschichten.


 


 

The National – Trouble Will Find Me

Genre:Rock
Stil:Indie-Rock, Art Rock, Post-Punk
Jahr:2013
Anzahl Titel:13
Laufzeit:55:06

Tracklist

I Should Live in Salt4:08
Demons3:32
Don't Swallow the Cap4:46
Fireproof2:58
Sea of Love3:41
Heavenfaced4:23
This Is the Last Time 4:43
Graceless4:35
Slipped4:25
I Need My Girl4:05
Humiliation5:01
Pink Rabbits4:36
Hard to Find4:13