Erinnerung letzte Woche: Die Melancholie des Endes in Sicht und die damit verbundene Unsicherheit, durch die neue Tür hindurchzuschreiten. Diese Woche: Die völlige Selbstsicherheit in der Vorfreude auf die nächste Nacht. Wissend, dass wichtige Entscheidungen fern und die Partys lang sind. 2004 ist die Welt einfach. Geld für den Inhalt des Kühlschranks? Reicht. Gespeichertes Wissen, um die nächste Uni-Prüfung zu bestehen? Passt. Die nächste Party? Vor der Nase. Der Zeitgeist fährt in die Beine. Das Post-Punk Revival sprießt wie Steinpilze auf feuchtem Waldboden. Anfang des Jahrzehnts öffnen in New York die Strokes ihre Garage, um die Rockmusik mit sparsam produziertem Lo-Fi-Charme zu erobern. In Großbritannien entstauben zahlreiche Bands Keller und Dachböden. Es braucht Platz zum Tanzen. Und eine Band aus Glasgow sorgt dafür, dass es an einem bestimmten Punkt der Party ertönt: “So, if you’re lonely …”. Danach, Tanzexzess und einer der berühmtesten Tempowechsel der Musikgeschichte. Franz Ferdinand debütieren.

Rivalen der Rennbahn

Zwei Jahre zuvor kommt es in Glasgow zur Mutter aller Anbandelungen. Sänger und Gitarrist Alex Kapranos trifft auf einer Party Schlagzeuger Paul Thompson. Beide verstehen sich auf Anhieb und verlieren sich in musikalischer Fachsimpelei. “Warum nicht eine Band gründen?”. Unter Musikern eine genauso häufig geäußerte Idee, wie es am Ende geselliger Männerabende heißt, “Lasst uns eine Kneipe aufmachen!”. Alex Kapranos schnappt sich Freund Bob Hardy und bringt ihm kurzerhand das Bass spielen bei. Derweil kehrt ein Bekannter Kapranos, Nick McCarthy, aus Deutschland zurück, wo er am Richard-Strauss-Konservatorium in München Kontrabass studiert. Geboren in Blackpool, verbringt McCarthy seine Kindheit im bayerischen Ort Vagen, sein Abitur macht er in Bad Aibling. Er gibt Kapranos seine Zusage der Band beizutreten, mit dem Wunsch, Schlagzeug zu spielen. Das größere Talent am Instrument zeigt sich schnell bei Paul Thomspon, so wird Nick McCarthy zweiter Gitarrist und Co-Songwriter.

Bei einem Pferderennen in Newcastle beobachtet die Gruppe ein Rennpferd mit dem Namen “Erzherzog Franz Ferdinand”. Spontane Begeisterung ob des Namens und dessen Geschichte. Immerhin gilt das Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand, verübt durch den 19-jährigen Gavrilo Princip am 28. Juni 1914 in Sarajevo, als Auslöser des Ersten Weltkriegs. Der germanische Klang und die Alliteration der beiden Worte faszinieren die Vier vom ersten Moment an. Warum nicht als Bandname “Franz Ferdinand”? Gesagt, getan. Kapranos und McCarthy schreiben die ersten Songs. Im Mai 2003 unterschreiben Franz Ferdinand ihren ersten Plattenvertrag beim Independent Label Domino Records und beginnen in den Gula Studios in Malmö mit den Aufnahmen zu ihrem Debütalbum.

Bitte tanzen sie jetzt!

Im September 2003 erscheint die Vorabsingle Darts Of Pleasure und gibt einen Vorgeschmack auf das Können der Band. Franz Ferdinand spielen zappeligen Indie-Rock, energetisch, treibend und mit jeder Note tanzbar. Damit treffen sie den Nerv der Zeit und bedienen die Klaviatur des Post-Punk Revivals. In Großbritannien kommt es zu einer Welle neuer Bands. Für die britische Musik ein neues Selbstwertgefühl in den darbenden Jahren nach dem Britpop. Franz Ferdinand reiten die Welle in der ersten Stunde und haben im Januar 2004, kurz vor Veröffentlichung ihres selbstbetitelten Debütalbums, einen dicken Pfeil im Köcher. Die zweite Single Take Me Out ist ein Meilenstein und vom ersten Tag an die Erkennungsmelodie der neuen, britischen Musikbewegung. Der Tempowechsel nach der ersten Strophe verändert die gesamte Songstruktur und gibt dem Hörer ein Zeichen, bitte spätestens jetzt die Tanzfläche aufzusuchen. Take Me Out bläst die Schneise, in der das Debütalbum seinen Triumphzug vollzieht.

Die elf Songs auf Franz Ferdinand sind wie eine alte, hakelige Gangschaltung. Neuer Song, neuer Gang. Jacqueline beginnt ruhig, fast flüsternd, um nach kurzer Zeit zu zeigen, wo es mit Franz Ferdinand langgeht. Tell Her Tonight erinnert stark an die Beatles. Als Schmankerl singt Schlagzeuger Paul Thompson den Song in einer Demoversion auf Deutsch (zu bestaunen in der unten eingebetteten Playlist). Take Me Out flutet Tanzflächen und Videospiele, der letzte Song 40 untermalt zahlreiche TV-Produktionen. Michael ist mein kleiner Geheimfavorit. In seinen Strophen ein konventioneller Uptempo-Song, der im Refrain alles einreißt und einen in das totale Körperchaos treibt. Grandios. Ein Song zum Defragmentieren. Alle Stücke auf Franz Ferdinand sind eingängig, tanzbar und in keinem Moment langweilig. Trotz der überschaubaren Produktion, die keinen unwesentlichen Anteil an dem ruppigen Charme und damit der “hakeligen Gangschaltung” hat, ist das Album ein kurzweiliges, aber intensives (Tanz- und Zappel-) Vergnügen.

Germanophilie

Das Franz Ferdinand, auch bedingt durch die Jugend Nick McCarthys, eine germanophile Ader haben, findet sich an vielen Stellen des Albums. Neben dem Songtitel Auf Achse, schenkt uns die Band am Ende von Darts Of Pleasure mit “Ich heiße superfantastisch, ich trinke Schampus mit Lachsfisch” deutsche Poesie für die Ewigkeit. In Interviews spricht Nick McCarthy akzentfreies Deutsch und die anderen Bandmitglieder kokettieren mit ihrer Sympathie für Deutschland. Nach ihrem phänomenalen Debüt geht es mit Franz Ferdinand sukzessive bergab. Der Nachfolger You Could Have It So Much Better ist eine bessere Sammlung an B-Seiten. Danach suchen sie auf drei weiteren Alben ihre musikalische Mitte und kämpfen gegen die Kritik. Ihr Debüt passt hervorragend in meine damalige Zeit voller Selbstsicherheit und Hedonismus. Die Nacht ist das Ziel, also gebt uns gefällig einen Anlass zum Tanzen und Feiern. Die Darts Of Pleasure treffen ins Schwarze, wir fahren mit Gangschaltung.

Unnützes Kneipenwissen I: Warum “Lachsfisch” und nicht “Lachs”? Nick McCarthy nimmt den semantischen Fauxpas in Darts Of Pleasure zugunsten eines “sauberen” Reims bewusst in Kauf, wie er selbst betont.

Unnützes Kneipenwissen II: Take Me Out ist mit all seinen Tempowechseln komplett live aufgenommen. Nach mehreren Proben war es allen Mitgliedern der Band möglich, parallel das Tempo zu verlangsamen.

 

Anspieltipps: Take Me Out, This Fire, Michael, Darts Of Pleasure

 


Wenn euch die Sahneplatte gefällt, schaut doch in der Plattenkiste vorbei. Da gibt es noch weitere hervorragende Alben und spannende Geschichten.



Franz Ferdinand – Franz Ferdinand

Genre:Rock
Stil:Indie Rock, Post Punk
Jahr:2004
Anzahl Titel:11
Laufzeit:38:49

Tracklist

Jacqueline3:49
Tell Her Tonight2:17
Take Me Out3:57
The Dark of the Matinée4:03
Auf Achse4:19
Cheating on You2:36
This Fire4:14
Darts of Pleasure2:59
Michael3:21
Come on Home3:46
403:24