Mit feixender Freude stelle ich fest, dass diese Woche eine kleine Themenwoche auf dem Blog wird. Vielleicht sind dies die späten Ausläufer des Einheitstages oder reiner Zufall. Diese Woche wird es deutsch. Keine Tümelei, aber ein paar spannende Beiträge zur deutschen Popkultur. Aus diesem Grund passt die heutige Sahneplatte ganz hervorragend. So unbeschwert der Sommer mit 17 war, so nervenaufreibend und scheinbar kompliziert wurde es kurze Zeit später. Diesen Beitrag möchte ich einem alten, sehr guten Freund widmen, den ich den letzten Jahren viel zu selten sah. Der aber in der Oberstufe des Gymnasiums ein ständiger Begleiter für mich war. Ein Spiegelbild meiner selbst. In jedem Kurs den ich hatte, saß er auch. So teilten wir viele Schicksale in dieser Zeit. Das verbindet. Es waren drei sehr intensive Jahre.
Es gab einen Abend bei ihm zuhause, der nicht besonders begann. Wir trafen uns (warum weiß ich nicht mehr) und begannen zu reden. Die Themen gingen nahtlos ineinander über, Alltag, Kurioses, später Druck, Probleme, Ängste. Aus heutiger Sicht, alles im Kontext eines Teenagers. Damals allerdings sehr essentiell. Wir redeten und tranken was die Hausbar hergab. Es war ein Abend der sich entwickelte und nicht vorhersehbar war. Natürlich hatten wir auch Musik. Wir legten diverse CDs und Kassetten auf, bis wir schließlich ein altes Album von Herbert Grönemeyer entdeckten. Seine Geschichten und Sicht der Dinge fügten sich so passend in unsere Szenerie, dass wir uns im Haus auf die Suche nach weiteren Alben machten. Dank dem Fundus zahlreicher Geschwister trugen wir einen großen Vorrat zusammen und beendeten den Abend erst, als die letzte Note gespielt war. Tief in der Nacht. Vom darauffolgenden Schultag weiß ich nichts mehr. Grönemeyer war ab dieser Nacht mehr als ein nuschelnder Barde.
Gib Gas, ich will Spaß
Im Jahr 1983 stand Herbert Grönemeyer vor dem Scheideweg. Obwohl er als Musiker zu diesem Zeitpunkt bereits vier Alben veröffentlichte, kündigte ihm seine Plattenfirma aufgrund seines mäßigen Erfolgs. Die Konzerte auf seiner Tournee waren spärlich besucht, manche mussten aufgrund mangelnden Interesses ganz abgesagt werden. Dank seinem Mitwirken als Schauspieler am Schauspielhaus Bochum sowie im Filmklassiker “Das Boot“, besaß er in Deutschland bereits ein geringes Maß an Bekanntheit. Die Frage, ob er sich als Musiker oder als Schauspieler sieht, konnte er zu dieser Zeit nicht recht beantworten. Auf der Musik lag zwar sein Fokus, ein Erfolg stellte sich allerdings nicht ein. Zu verkopft seine Texte, zu undeutlich seine Aussprache, zu sperrig sein Bühnenauftreten.
Zu Beginn der 1980er-Jahre herrschte in Westdeutschland eine große Friedensbewegung. Künstler, die etwas zu sagen hatten und sich politisch positionierten waren erfolgreich. Es war die Zeit der Liedermacher (Konstantin Wecker, Georg Danzer) und Künstler mit Botschaften (BAP, Udo Lindenberg, Heinz Rudolf Kunze). Bands wie die Fehlfarben, Extrabreit, Der Plan musizierten nach dem DIY-Prinzip einer avantgardistischen Subkultur. Zeitgleich sorgten Gruppen aus dem musikalischen “Underground”, angelehnt an Punk und New Wave, für die erste bundesweite Musikkultur des Landes: die Neue Deutsche Welle. Trio, Ideal und vor allem Nena ließen über Nacht Musik mit deutschen Texten weltweit erfolgreich sein und öffneten die Tür zur kommerziellen Ausschlachtung. Grönemeyer befand sich zu jener Zeit in einem großen Raum voller Möglichkeiten, nur passte keine Tür so recht.
Gib mir mein, gib mir mein Lied zurück
1984 nahm ihn die Plattenfirma EMI unter Vertrag und versicherte ihm, sein nächstes Album zu veröffentlichen. Im August erschien dieses Werk, was lediglich den Namen und die PLZ seiner Heimatstadt trägt: 4630 Bochum. So weit, so minimalistisch. Grönemeyer verzichtete darauf sein, wie er selbst sagt, nicht sehr verkaufsförderndes Konterfei, auf das Albumcover zu nehmen. Vorab, im Juni, erschien die erste Singleauskopplung “Männer“. Und Grönemeyer sprengte Grenzen. Ein Mann singt zum ersten Mal öffentlich und selbstironisch über Befindlichkeiten. Der Song stieg in die deutschen Top Ten, Grönemeyer war auf einen Schlag, auch musikalisch, etabliert. Seine Poesie fand ihren Platz in der bereits verglühenden und sich selbst zerfleischenden Neuen Deutschen Welle.
Das Album gilt heute als deutsche (Musik-)Geschichte. 79 Wochen in Folge in den deutschen Charts, bis heute knapp drei Millionen verkaufte Exemplare allein in Deutschland (damit Platz drei der meistverkauften Alben in der Bundesrepublik). Auch wenn einige Songs auf dem Album stark nach 80er klingen, so sind sie heute Klassiker deutscher Musikkultur. “Bochum” – eine Hymne. “Alkohol” – die Rechtfertigung eines Lebensgefühls. “Jetzt oder nie” – Gesellschaftskritik. “Flugzeuge im Bauch” – Poesie. Auch wenn ich Herbert Grönemeyer nie verzeihe, dass er Jahre später die Tür öffnete, als Oli P. anklopfte. Da fasse ich mir heute noch an den Kopf.
Drüberstehen
Grönemeyers Karriere ist voller toller Dinge, die er für die deutsche Musik und die deutsche Sprache getan hat. Zumindest hat er uns einen erinnerungswürdigen Abend beschert und den Kopf zurecht gerückt. Heute erscheint fast alles trivial, was mit 19 essentiell und unglaublich wichtig war. Es geht immer weiter, oftmals besser und weiter als zuvor. Herbert Grönemeyer macht bis heute Musik und muss sich schon lange nicht mehr für seine Texte, sein Auftreten oder seine Aussprache rechtfertigen. Er steht über den Dingen. Kann er auch. Können wir alle.
Unnützes Kneipenwissen I: 4630 Bochum war im Jahr 1984 das erfolgreichste Album in Westdeutschland. Es verwies damit das meistverkaufte Album aller Zeiten, “Thriller” von Michael Jackson, auf den zweiten Rang.
Unnützes Kneipenwissen II: Der Bruder von Herbert, Dietrich Grönemeyer, ist ein sehr erfolgreicher Mediziner und ist als Experte auf seinem Fachgebiet ebenfalls häufig in den Medien vertreten.
… und für die, die es schon vergessen haben …
Unnützes Kneipenwissen III: Die Postleitzahlen wurden 1993 von vier- auf fünfstellig umgestellt.
Anspieltipps: Männer, Alkohol, Flugzeuge im Bauch, Jetzt oder Nie
Höre ich dann am liebsten: im Haus der deutschen Geschichte in Bonn
Herbert Grönemeyer – 4630 Bochum
Genre: | Pop |
Stil: | Deutschpop |
Jahr: | 1984 |
Anzahl Titel: | 10 |
Laufzeit: | 38:43 |
Tracklist
Bochum | 3:50 |
Männer | 4:00 |
Flugzeuge im Bauch | 3:54 |
Alkohol | 4:29 |
Amerika | 3:26 |
Für Dich da | 3:23 |
Jetzt oder nie | 4:57 |
Fangfragen | 4:17 |
Erwischt | 4:01 |
Mambo | 2:45 |
16. Oktober 2017 um 9:35 Uhr
Mitunter peinlicher Bekenntniszwang…
16. Oktober 2017 um 10:04 Uhr
Als Bochumer muss ich das wohl kommentiern. Welche Stadt kann schon von sich behaupten eine von so einem bekannten Künstler interpretierte Hymne zu haben? Gerne zu später Stunde in der Kneipe angespielt wird hierzulande auch jetzt noch mitgegröhlt, wenn es darum geht, dass der VfL jeden Gegner nass macht. Im Stadion natürlich auch. Schade, dass die Zeiten vorbei sind.
16. Oktober 2017 um 10:28 Uhr
Ja Carsten, für dich sicherlich eine besondere Beziehung…:)
16. Oktober 2017 um 10:04 Uhr
Wunderbar!! Danke, dass Du Herberts herrliche Platte besprochen hast! Ich habe lange gebraucht, um ihn zu mögen, Ö war bei vielen von uns Kult, damals fand ich The Doors besser 🙃. Aber dann hab ich Herbert mal live auf nem Konzert gegen Rechte Gewalt in Frankfurt erlebt und so etwas gibt es nicht noch mal: Grönemeyer live zu erleben, ist Wahnsinn. Ich weiß nicht, wie er es macht, aber da ist eine Energie zwischen ihm und uns im Publikum, unfassbar! Ein Konzert mit ihm ersetzt psychologische Gespräche, dessen bin ich mir sicher 😉. Gesunder Geist durch gute Musik 😉
16. Oktober 2017 um 10:29 Uhr
Sehr schön zusammengefasst. 🙂
“Gesunder Geist durch gute Musik”… Lass dir das ja nicht schützen…:D
16. Oktober 2017 um 10:27 Uhr
Hör ich am liebsten: anne Castroper Straße.
16. Oktober 2017 um 10:30 Uhr
Da wollte ich jetzt nicht meine Authentizität aufs Spiel setzen…und schon gar nicht Bochumern zu nahe treten…:D
Wenn du allerdings Lokalkolorit magst, kann ich dir meinen gestrigen Sneak Peak auf Facebook, Insta oder Twitter empfehlen…:D
Hab einen schönen Tag! 🙂
16. Oktober 2017 um 13:43 Uhr
Jesses. Ich glaube, von der kannte ich (damals zumindest) jeden Ton. Auswendig. Vermutlich heute noch, wenn das bleibt … Obwohl ich noch nie in Bochum war und mich über die Jahre auch nicht zum eingefleischten Fan entwickelt habe …
Danke fürs Erinnern!
Liebe Grüße
Christiane
16. Oktober 2017 um 15:12 Uhr
Nenn mich Post-IT… 🤣
16. Oktober 2017 um 15:31 Uhr
🍁🍂🍃🍂🍁
16. Oktober 2017 um 15:33 Uhr
… Oder so… 😊
17. Oktober 2017 um 14:49 Uhr
Meiner bescheidenen Meinung nach war Grönemeyer nie besser. Favorit: Männer
17. Oktober 2017 um 14:54 Uhr
Wie wahr… 😊
25. März 2018 um 18:54 Uhr
Schön so’ne Entdeckungsgeschichte von “alter Musik” aus der Perspektive der später Geborenen. 🙂 Grönemeyer mochte ich zu Bochum-Zeiten schon ein bißchen. Aber das nahm stark ab. “Kinder an die Macht” ist z.B. kompletter unrealistischer Quatsch von jemandem, der wie der Blinde von der Farbe singt.
Noch übler nehme ich ihm, wenn er herumtönt, wie er die Tournee-Angebote der DDR ausschlug, weil die da sowieso nur FDJler in seine Konzerte geschickt hätten:( Blinder von der Farbe Teil 2), – nicht informiert, aber so tun als ob – denn als die DDR ihn wollte, anno 87 (also kurz vor Schluss) wäre das durchaus freier Kartenverkauf gewesen und in der FDJ waren 97 % aller 14-25jährigen: Da gab es die Songpoetentour von H.R.Kunze; Stoppock, Maurenbrecher und Ulla Meinecke – die waren halt nicht so arrogant und kamen und begeisterten. Alle 4 zu Ostzeiten erlebt, Karten kriegen kein Problem und ich war KEIN BONZEN-Kid.
Inzwischen isser ja so ne Art Hausfrauenbeglücker – der gehobene Carpendale oder so. Nunja.
26. März 2018 um 8:24 Uhr
Starke Meinung, die sich nicht unbedingt mit meiner deckt 😉. Aber so soll es sein! 👍Zu deinem Bericht (vielen Dank dafür, sehr interessant!), passt ganz hervorragend die gesamtdeutsche Doku “Pop 2000”. Zu finden in den Sahnestücken. Finde es immer sehr spannend, von Erfahrungen aus Ost UND West zu hören 😊