Im Jahr 1997 sieht sich die amerikanische Rockmusik einer handfesten Identitätskrise gegenüber. Grunge befindet sich im künstlerischen Niedergang, seit sich Kurt Cobain drei Jahre zuvor das Leben nahm. Labels und Produzenten versuchen sich mit “am Reißbrett” entworfenen Künstlern an den letzten Reanimationsmaßnahmen. Der mit Sehnsucht transportierte Weltschmerz degeneriert. Neue Bands greifen Klänge auf, die vor dem Grunge ihre Entstehung fanden. Crossover war nicht neu. Das Verschmelzen von Rock, Metal, Rap und Funk hat tiefe Wurzeln in den 1980er-Jahren. Bands wie Korn, Deftones oder Limp Bizkit, geben diesen Wurzeln neue Nahrung. “NuMetal”. Personifiziert durch rappende Frontmänner und dem Einsatz von DJs entsteht ein neuer Zeitgeist, der die Szene und später die ganze Musikindustrie ins neue Jahrtausend führt. In dieser Zeit arbeitet eine Gruppe 20-jähriger High School-Freunde aus dem San Fernando Valley fieberhaft an ihrem Debütalbum. Der sperrige Name der Platte: “S.C.I.E.N.C.E.“. Incubus sind Teil dieser Szene, aber doch anders.

Stilistischer Freiraum

Streng genommen ist S.C.I.E.N.C.E. nicht das Debütalbum der Band. Bereits zwei Jahre zuvor erscheint ihr erster Langspieltonträger namens “Fungus Amongus“, den Incubus nur auf einem Independent-Label vertreiben. Brandon Boyd (Gesang), Mike Einziger (Gitarre), Alex Katunich (Bass) und Jose Pasillas (Drums) gründen die Band im Jahr 1991. Trotz ihres jungen Alters besitzen Incubus früh typische Merkmale. Ihr Sound ist unique, orientiert sich mehr an dem Punk und Funk der frühen Faith No More oder Red Hot Chili Peppers als an Rap oder Metal. Brandon Boyd denkt nicht daran, auf der Bühne die gespielten Riffs mit Sprechgesang zu unterlegen. Sein facettenreicher Gesang ist sein Markenzeichen. Überhaupt Brandon Boyd: dieser ist mit einem solch herausragendes Aussehen und Charisma gesegnet, dass sich im Publikum der Konzerte überwiegend Surfer und vor allem Frauen befinden. Trotz der harten Klänge der frühen Jahre.

Incubus definieren den angestaubten Crossover neu, in dem sie nicht stupide Rap und Metal mixen. In ihren Songs der frühen Jahre finden sich Elemente des Souls, Pop, Hardcore, Jazz oder Thrash. S.C.I.E.N.C.E. transportiert diese Vielfältigkeit perfekt. In sechs Wochen eingespielt und aufgenommen, setzen sich Incubus keine stilistischen Grenzen. Alles was Spaß macht ist erlaubt. Wer die Band erst, sagen wir, 2007 aufgrund von Radiopräsenz für sich entdeckt, reagiert nach dem Hören von S.C.I.E.N.C.E. wie folgt. Entweder heftig den Kopf schütteln oder das Album nicht mehr aus der Hand legen. Es ist keine leichte Kost. Eine Hitsingle gibt es mit “Drive” erst auf dem Nachfolgealbum “Make Yourself” und das Feuerwerk aus Stilmitteln neigt zur auditiven Überforderung. Wer sich Zeit nimmt, entdeckt zahllose Perlen und am Ende ein Album, dass Sinn macht.

Dermatologische Trophäen

Der sperrigste Track kommt direkt am Anfang. “Redefine” ist laut, hart, der Rhythmus stets neben dem Tanzbaren. Wer eine richtige Sch…woche auf der Arbeit hat, für den ist das der perfekte Song für die freitagabendliche Autofahrt. Reset. Die folgenden Songs erfahren mehr Struktur und überraschen mit ohrwurmwürdigen Hooklines. “New Skin“, der vielleicht beste Track des Albums, “Glass“, “Favorite Things” oder “Deep Inside“. Zentral platziert ist “A Certain Shade of Green“, der Song, der mich in die Welt von Incubus zog und einige blaue Flecken, pardon, dermatologische Trophäen, in Alternative-Clubs bescherte. Ein “Weltsong”.

Erwähnenswert sind zwei Stücke, welche die Wurzeln und das spätere Werk von Incubus begründen. Das Instrumentalstück “Magic Medicine” stellt das Bandmitglied DJ Lyfe (Gavin Koppell) an die Front und legt die Funkessenz und Basslines offen auf den Tisch. Text? Samples aus einem Kinderbuch genügen. “Summer Romance” ist NICHT Jamiroquai, es ist der perfekte Steilpass für den Surfer Boyd, der nur noch die Stimme hinhalten muss.

Ihr Facettenreichtum bewahrt Incubus davor, Anfang der 2000er-Jahre mit dem Hype des NuMetals unterzugehen. In den Folgejahren entwickelt sich ihr Sound stetig weiter, ohne dass sie ihre Wurzeln verlassen. Dieses organische Wachstum ist für die Songs von S.C.I.E.N.C.E. ein Problem. Zehn Jahre nach Veröffentlichung des Albums findet sich kein Stück mehr auf den Setlists der Konzerte. Sie passen nicht mehr ins Gesamtgefüge und die Band hat sie, nach eigener Aussage, zu oft gespielt. Fans der ersten Stunde sind ob der gegenseitige Pause von Band und Songs enttäuscht. Seit zwei, drei Jahren finden sie wieder ihren Platz auf der Bühne. Incubus haben 20 Jahre nach Erscheinen des Albums ihren Frieden damit gemacht.

Werde erwachsen!

Incubus sind für mich besonders und waren viele Jahre ein fester Bestandteil meines täglichen Musikkonsums. Alle Alben zwischen 1997 und 2004 sind für mich wahre Sahneplatten. S.C.I.E.N.C.E. begründet eine kleine Reihe in diesem Blog, in der die drei Nachfolgealben (“Make Yourself“, “Morning View” und “A Crow Left Of The Murder“) an anderer Stelle ihren Platz finden. Besonders möchte ich herausstellen, dass ich durch und mit Incubus ganz tolle Menschen, gar einen komplett neuen Freundeskreis erschlossen habe, die in meinem heutigen Alltag eine wichtige Rolle spielen. Zu den weiteren Alben von Incubus gibt es noch ganz viele Anekdoten und Geschichten, die ich erzählen möchte. Verpasste Konzertbeginne, weite Wege in den Festival-Moshpit und natürlich Brandon Boyd erfahren ihren Platz im Scheinwerferlicht. Ich freue mich drauf!

 

Unnützes Kneipenwissen I: Das Akronym S.C.I.E.N.C.E. hat eine besondere Bedeutung. So weit haben es Incubus bisher aufgelöst. Was es genau heißt, wurde bisher allerdings nicht aufgelöst. Mal spricht die Band von “Southern California’s Incubus Enters Nirvana’s Can Equipment“, mal von “Sailing Catamarans Is Every Nautical Captain’s Ecstasy“. Warum muss alles eine tiefere Bedeutung haben?

Unnützes Kneipenwissen II: Genauso verhält es sich mit dem abgebildeten Typ auf dem Cover von S.C.I.E.N.C.E. Eine Band-Legende nennt ihn einfach “Chuck”, der wiederholt auf frühen Artworks der Band erscheint. Brandon Boyd hat in einem Interview angefügt, dass er “wohl Charles Mulholland heiße”. Was er genau macht? “Keine Ahnung, es scheint, als wisse er irgendwas”.

 

Anspieltipps: A Certain Shade of Green, New Skin, Glass, Summer Romance

Höre ich dann am liebsten: auf dem Weg nach Hause

 



Incubus – S.C.I.E.N.C.E.

Genre:Rock
Stil:Alternative Rock, Funk Metal
Jahr:1997
Anzahl Titel:12
Laufzeit:55:52

Tracklist

Redefine3:22
Vitamin3:13
New Skin3:51
Idiot Box4:07
Glass3:37
Magic Medicine3:03
A Certain Shade of Green3:11
Favorite Things3:11
Summer Romance (Anti-Gravity Love Song)4:26
Nebula3:50
Deep Inside3:55
Calgone (+ Untitled Hidden Track)16:05