Geht euch das auch so? Ihr hört ein Leben lang Musik und habt Bands, die euch den ganzen Weg begleiten. Manchmal nur für eine Phase, in seltenen Fällen über die gesamte Distanz. Ihr greift zu, wenn ihr eine bestimmte Stimmung oder Erinnerung fühlen wollt. Wie das Paar Sneakers, das erstaunlich gut altert und sitzt, wie am ersten Tag des Tragens. Daneben gibt es andere Bands. Die auch immer da waren, aber stets unter dem Radar flogen. Ihr kennt Songs und vielleicht auch den Kosmos oder Aussagen der Band. Wirklich begleitet haben sie euch aber nur aus der Ferne. Wie der Gast an der Party, der den gesamten Abend nicht aus der hinteren Ecke kommt, um Hallo zu sagen. Bei mir sind das, und da muss ich keine Sekunde zögern zu antworten, The Cure. Heute wird es Zeit, sie anzusprechen. In ihrer Ecke. Disintegration.
Facetten
In den späten 1980er-Jahren blicken The Cure auf eine facettenreiche Bandgeschichte. Nach ihrem Debüt im Jahr 1979, veröffentlichen sie bis 1987 sieben Studioalben. Anfangs mit ersten Gehversuchen im Bereich Dark Wave und Gothic Rock, tendieren The Cure spätestens mit ihrem vierten Album The Top (1984) zum Zeitgeist. Pop ist angesagt. Und Robert Smith, in seiner Erscheinung eine Antigone oberflächlicher Musik, schreibt die Songs dazu. Genau wie er es vorher schafft, Menschen in Melancholie und Düsterkeit zu berühren. Das spannende, selbst in seiner neuen Rolle mit Pop-Attitüde, ändert er sein Alleinstellungsmerkmal nicht. Weiterhin erscheint er als fleischgewordenes Gothic-Ebenbild mit Schminke und zerzausten Haaren. Egal, wie sich der Ausdruck der Kunst ändert, die Attitüde bleibt. Deswegen schaffen The Cure es, in den 80ern erfolgreich zu bleiben.
Dabei ist Robert Smith unter der Schminke ein wirklich gut aussehender Kerl, der problemlos sein Äußeres in der hedonistischen Popmusik nach vorne stellen könnte. 1987 erreichen The Cure ihren vorläufigen Höhepunkt mit dem eklektischen Doppelalbum Kiss Me, Kiss Me, Kiss Me. Top Ten-Platzierungen in ganz Europa und erste Erfolge in den USA lassen The Cure endgültig warmes Rampenlicht auf den Gesichtern fühlen. Die Band allerdings ist müde. Zu Beginn ein Nischendasein als Gothic Band fristend, sehnt sich Robert Smith nach dem Melancholischem früherer Tage. Erfolg brachten Popsongs, aber auf niemanden treffen diese Songs weniger zu als auf The Cure. Sein bevorstehender 30. Geburtstag, versetzte Robert Smith in Angst und konfrontiert ihn mit Depressionen. Alle großen Musiker hatten bis zu diesem Punkt ihre besten und erfolgreichsten Werke geschrieben. Er, nach seiner Meinung, nicht.
Eskalation
Getrieben vom Wunsch, The Cure seien mit ihrer Popmusik missverstanden, soll sich das neue Album wieder in seiner Melancholie um essentielle Fragen drehen: Warum lieben wir und warum sterben wir? Es sind Fragen, die weder junge noch alte Menschen beantworten können. In ihrer Philosophie ist die Band stringent. Also, wieder zum Anfang zurück. Die Aufnahmen von Disintegration werden überschattet vom internen Streit mit Keyboarder Lol Tolhurst.
Dieser ist seit den Gründungstagen dabei und ein alter Schulfreund Smiths. Aufgrund seiner Alkoholsucht ist er mittlerweile ein nicht mehr zu kontrollierender Ballast für die Gruppe. Smith duldet den täglich betrunkenen und teilnahmslosen Tolhurst lediglich aus einem Gefallen gegenüber einem alten Freund. Die anderen Bandmitglieder zeigen kein Verständnis und stellen ihren Sänger vor die Wahl: Sie oder er. Der Konflikt eskaliert in einer physischen Auseinandersetzung während der Aufnahmen, am Ende dessen Tolhurst die gemeinsamen Aufnahmen verlässt und die Band im nächsten Schritt verklagt. Erst 22 Jahre später kehrt er für eine kurze Zeit zur Band zurück.
Kreisel des unglücklichen Bewusstseins
Smith schreibt alle 32 Songs der Disintegration-Sessions im Sommer 1988. Was erstaunlich ist, ob der atmosphärischen Kühle der Songs. Gemeinsam platzieren The Cure zwölf Songs auf dem Album, die am Ende beides erreichen: Erfolg und Attitüde. Wenn du bei Kiss Me, Kiss Me, Kiss Me verliebt bist, bist du bei Disintegration unglücklich verliebt. Ein Soundtrack der Orientierungslosigkeit und damit verbundener Furcht. Auf dem Plattencover findet sich ein Ratschlag: „This music has been mixed to be played loud – so turn it up.“
Musikalisch ist Disintegration eine einzige Redundanz, eine endlose Schleife, ein Kreisel des unglücklichen Bewusstseins. Plainsong ist der Opener, der dich perfekt, vom ersten Ton an, in die Stimmung der Platte versetzt. Pictures Of You ist eine Elegie, die U2 niemals schrieben und sich dafür heute hassen. Lovesong schreibt Smith für seine damalige Verlobte und ist eines der schönsten Liebeslieder überhaupt. Lullaby wird mit seinen Streichern zum großen Hit und hinterlässt dem Hörer ein verstörendes Musikvideo mit tausenden Allegorien. Der großartige Basslauf von Fascination Street – ein Meisterwerk für Misanthropen. Was habe ich gefeiert, den Song im Abspann einer Folge der Netflix-Serie 13 Reasons Why zu hören. Passender geht es nicht.
Kühles Pflaster
Diese Songs sind jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Die anderen, wie Disintegration, Prayers For Rain oder Untitled, dauern selten unter fünf Minuten und füllen Badewannen mit Klangteppichen. Disintegration ist dabei nie schwarz, sondern immer dunkelgrau. Stets findet sich etwas Schönes, Hoffnungsvolles in den Songs. Und wenn es nur die Texte sind, denen es nicht schadet, manchmal den schmalen Grat von Poesie zu Kitsch zu überschreiten. So lange du diese Musik hörst, brauchst du keine Angst zu haben. Da ist das einzigartige des Albums, welches in einem Zeitgeist von politischem und gesellschaftlichem Wandel The Cure den größten Erfolg bringt, bevor sich die Band in den 90er-Jahren wieder der Popmusik zuwendet. Vielleicht ist Disintegration sogar der perfekte Schlusspunkt der 80er.
Wenn ich jetzt gerade die Songs von Disintegration höre, fällt mir auf, dass ich das umfangreiche musikalische Werk von The Cure nie ausreichend schätzte. Warum bin ich nie in die Ecke gegangen und habe sie angesprochen? Sie standen doch immer da rum? Vielleicht war ich nie traurig genug. Vielleicht war der Einfluss meiner Brüder nicht groß genug. Eine großartige Band, die für gewisse Situationen eine Einzigartigkeit besitzt. Weit abseits ihrer Beiträge für Schulpartys (Boys Don’t Cry), Unipartys (The Love Cats) oder 90er-Jahre-Radio (Friday I’m In Love). Vor allem da die Welt gerade vor Hitze schmilzt, ist Disintegration ein angenehmes kühles Pflaster. Ein dunkelgraues, kein schwarzes.
Unnützes Kneipenwissen I: Adele spielt auf ihrem Überalbum 21 eine angenehme Lounge-Version von Lovesong. Perfekt für den Sommerabend, Gin Tonic trinken und Nüsschen knabbern. Adele wählte diesen Song, da ein Auftritt The Cures im Finsbury Park ihr erstes Konzert war. Ihre Mutter ist ein riesiger Fan der Band. Weitere berühmte Cover stammen von Tori Amos und A Perfect Circle.
Unnützes Kneipenwissen II: Mit dem Musikvideo zu Lullaby verarbeitet Robert Smith einen Albtraum aus seiner Kindheit, in dem er von einer riesigen Spinne gefressen wird. Laut Smith handelt der Song von Hypnophobie, der Angst vorm Einschlafen.
… so viel zu erzählen …
Unnützes Kneipenwissen III: Ihren ersten Plattenvertrag unterzeichnete die Band als Easy Cure mit der deutschen Plattenfirma Hansa Records. Kurze Zeit später verloren sie den Deal, da sie sich weigerten, selbst auf Plattencovern zu erscheinen. Im Anschluss daran benannten sie sich in The Cure um.
Unnützes Kneipenwissen IV: Die Idee zu Fascination Street kam Robert Smith bei einem Besuch in New Orleans. Pate stand die dort ansässige Bourbon Street, bekannt für ihre Bars, Musik- und Stripclubs. Obwohl der Song sich unter Fans großer Beliebtheit erfreut, erschien er lediglich in den USA als Single.
Anspieltipps: Lullaby, Lovesong, Fascination Street, Pictures Of You, Plainsong, Untitled
Wenn euch die Sahneplatte gefällt, schaut doch in der Plattenkiste vorbei. Da gibt es noch weitere hervorragende Alben und spannende Geschichten.
The Cure – Disintegration
Genre: | Rock |
Stil: | Dark Rock, Gothic Rock |
Jahr: | 1989 |
Anzahl Titel: | 12 |
Laufzeit: | 71:47 |
Tracklist
Plainsong | 5:12 |
Pictures of You | 7:24 |
Closedown | 4:16 |
Lovesong | 3:29 |
Last Dance | 4:42 |
Lullaby | 4:08 |
Fascination Street | 5:16 |
Prayers for Rain | 6:05 |
The Same Deep Water as You | 9:19 |
Disintegration | 8:18 |
Homesick | 7:06 |
Untitled | 6:30 |
30. Juli 2018 um 19:34 Uhr
Meine damalige Lebensgefährtin brachte dieses Album als wir uns kennenlernten (1993) quasi als Mitgift mit. ich bin per se kein depressiver Mensch und fuchste mich des lieben Friedens willen über Lullaby ins Album. Es bleibt bei mir die große Ausnahme an Platten, die ich durchweg gerne höre, wobei ich beim hören immer noch nicht depressiv werde 🙂
Ich wüsste nicht, wer diese Art von Stimmung besser verbreitet.
30. Juli 2018 um 20:15 Uhr
Vielen Dank für die Geschichte Alex… Bin ganz bei dir… 😊👌
30. Juli 2018 um 19:49 Uhr
Damit bin ich aufgewachsen. Lieblingsband meiner Mutter gewesen. 😊 Tolle Band und tolle Musik 😉
30. Juli 2018 um 20:13 Uhr
Schöne Parallelen zu Adele liebe Suse… 😊
30. Juli 2018 um 20:19 Uhr
😊 Du erinnerst dich an meinen letzten Kommentar bei dir. 😃 Ja ich mag depri-Musik, passt gut zu mir. 😊
31. Juli 2018 um 15:50 Uhr
Hach ja, Pictures of you. Mein zweitliebster The Cure Song. Aber nur die super lange mega extended Version.
Das ist so Musik, da kann man – egal in welcher Stimmung man gerade ist – einfach perfekt aus dem Fenster schauen und die Gedanken laufen lassen und einfach so da sitzen. Egal ob 33 Grad und Sonne oder 12 Grad und Regen oder noch kälter und Schnee. Einfach sitzen, einfach Sein. Schön.
Und überhaupt nicht depri.
Keine Musik zum Party machen, aber auch nicht zwingend zum traurig sein; schlicht Musik die erdet und kurz Mal Pause drückt.
Für mich jedenfalls.
Und Lullaby ist ja immer noch so toll einfach! Ebenso wie Disintegration und Homesick.
31. Juli 2018 um 16:24 Uhr
😊😊😊 Was ist denn dein liebster The Cure Song? 😉
31. Juli 2018 um 18:52 Uhr
Just like Heaven <3
31. Juli 2018 um 19:35 Uhr
Wusste ichs… ❤️
31. Juli 2018 um 19:52 Uhr
Bin ich so durchschaubar? ^^
31. Juli 2018 um 19:55 Uhr
Niemals… Ich bin nur gut… 😉😉
3. August 2018 um 16:56 Uhr
Ach ja die Cure….auch unter meinem Radar flogen sie irgendwie (fast) unbemerkt durch. Hochgejazzt bis zum Gehtnichtmehr im Radio: Beste Band der Welt; showmäßig uneinholbar, angeblich gibt es anfang der 80er sowieso nur noch zwei innovative Truppenteile: Police und Cure. Naja.
“Wennste ausse 70a komm’s und Ohren hast, die an Yes und Eagles und Genesis(alt!) geschult wurden, dann fragste dir bei Policejeklappa: Hä? Und dieses Gruftidingens dieser Curetruppe- also – nÄ!”
Die Sicherheitsnadeln und kurzen Haare des Punk – das war zu Pennälerzeiten noch “in” und fühlte sich richtig an. Gruft kam nach der Fahnezeit und war – nur noch alberner Dauer-Fasching.
Obwohl da war “lovecats” und ich mochte ja die “smooth operator”LP von Sade! Das war dieses easy-listening-jazz-ding. Working week, weekend, Clarke-Duke-Project… Also kaufte ich mal auf einem schlechter bestückten Flohmarkt mangels Auswahl “The Cure – standing on a beach – the singles” und wunderte mich anschließend, weshalb die jedermann von mir aufnehmen wollte. Allerdings erging es dem einen oder anderen dann wie mir: “Und die werden so gefeiert? Doll is’ nich.”
4. August 2018 um 11:12 Uhr
Wie immer, vielen Dank für deine klasse Gedanken… 😊👌🏻. Darf ich bitte “Dauer-Fasching” verwenden? Ja? Liebsten Dank! 😂
7. August 2018 um 22:52 Uhr
Ich hatte seinerzeit Lullaby gehört und war begeistert, dann hörte ich eine Radiokritik, man müsse sich auf eine Enttäuschung einstellen, sofern man eine Platte im Lullaby-Stil erwarte. Irgendwie wusste ich: ja, dann ist es die meine. Und ich wurde nicht enttäuscht. Und wer braucht schon Lullaby 😉 Definitiv eine der Top 5 aus den 80en und darüber hinaus und sicherlich in den Top 5 meiner überhaupt meistgehörten Platten seit Jahrzehnten.
Mein Fav auf der Platte, ganz klar: Same Deep Water As You.
Noch empfehlenswert: die Live Trilogy mit dem kompletten Set der Disintegration.
Noch empfehlenswert (II): Konzert.
Ok, das wars mal wieder.
Kiss me goodbye.
8. August 2018 um 15:22 Uhr
Sehr schöner Erfahrungsbericht…! Liebsten Dank 😊